- Diagnose: Idiopathische Reformallergie Grundlegende Reformen unseres Gesundheitssystems sind in der Vergangenheit gescheitert (zum Beispiel im Jahre 2012 die Managed-Care-Vorlage) oder kommen höchstens als «zweitschlechteste Variante» in Zeiten des allgemeinen Unmuts zustande (so die schliesslich 1996 in Kraft getretene KVG-Vorlage). Kann die Verabschiedung von Vorlagen als Folge eines übermächtigen Problemdrucks nicht mehr verhindert werden, wird der Referendumsmotor gezündet (EFAS), sicherheitshalber zudem das darin aus der Sicht von Interessengruppen enthaltene Schadenspotenzial mit fadenscheinigen Argumenten durch mehrjährige Warte- und Übergangsfristen minimiert (EFAS). Die «lange Bank» ist ohnehin – nebst dem Papierkorb – das beliebteste Gerät im Parlamentsgebäude (Umsetzung der Pflegeinitiative). Gesetzgebungstechnische Mängel von Vorlagen (Akut- und Übergangspflege mit ungenügend präzisierten Tarifbestimmungen) werden weder angewendet noch verbessert. Die letzten reformverhindernden Rettungsanker bilden administrative Schikanen (Experimentierartikel). Damit es aber nicht so weit kommt, verfügt der Bundesrat über eine Wunderwaffe, die Ablehnung parlamentarischer Vorstösse unter Hinweis auf die Zuständigkeit der Kantone.
- Eppur si muove Aber es bewegt sich doch ein bisschen, redet sich der Reformwillige ein, wenn er sich auf den Weg macht, um den Hochsicherheitstrakt am Bundesplatz 1 zu verlassen. Allerdings begegnen ihm beim Wandeln durch die Hallen zwar drei Eidgenossen, nicht aber eine Statue von Galileo Galilei (falls nicht gerade der Besuch eines ausländischen Parlamentspräsidenten jedes Durchkommen verhindert). Aber wie spürt man bereits kleine Veränderungen? Einmal mehr inspiriert uns Antoine de Saint-Exupérys kleiner Prinz («Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar»). Übertragen auf die Gesundheitspolitik: Es sind nicht die (hoch)spannungsvollen Debatten im Parlament oder an den vier Arena-Stehpulten, sondern die Kriechströme der Gesundheitspolitik, auf die wir unser Augenmerk lenken sollten. Sie sind im veränderungsaversiven Gesundheitssystem so wenig geplant oder erwünscht wie in der Elektrotechnik und fliessen – wie dort – an der (reformabweisenden) Isolation vorbei. Gesundheitspolitische Kriechströme können verschiedene Erscheinungsformen annehmen und mehrere Entwicklungsphasen durchlaufen, beispielsweise durch neue Formen der Leistungserbringung, die sich als disruptiv erweisen.
- First Responder Die Diskussionen über die Schliessung von Spitalabteilungen oder ganzen Spitälern werden durch die Vermischung von zwei Themenkreisen erschwert: So bevölkerungsnah die Versorgung in akuten Situationen und Notfällen sein soll wie der Zugang zu Haus- und Kinderarztpraxen, so umso weniger gewichtet der Faktor Nähe beim Zugang zu Spezialdiensten oder Wahleingriffen. First Responder stellen mit ihrer qualifizierten fachlichen Vorbereitung eine zeitgemässe Form der Nachbarschaftshilfe mit Disruptionspotenzial dar, als «Ersteintreffende» überbrücken sie die Zeit bis zum Einsatz der professionellen Rettungsdienste. Sie bringen ein neues Gleichgewicht in das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Qualität.
- Tele Tele, die Ferne, steht hier für alle Formen der örtlichen Trennung von Patienten und Leistungserbringern. Auch sie relativiert als Telemonitoring das Spannungsverhältnis zwischen vertrauter Umgebung und Qualität der Leistungserbringung.
Disruption entwickelt sich von unten – im Unterschied zu den bisher praktizierten «On top»-Strategien. Disruptive Produkte und Dienstleistungen sind zu Beginn einfach, oft monofunktionell – ganz im Gegensatz zum schweizerischen Militärsackmesser. Vorerst werden sie nicht ganz ernst genommen, wie zum Beispiel Apotheken mit telemedizinischer Anbindung oder telemedizinischen Dienstleistungen allgemein. - Wann ist ein Spital ein Spital? «Ein Kanton ohne Kantonalbank und Kantonsspital ist kein richtiger Kanton» – meinte unlängst ein Mitglied einer Kantonsregierung. Spitäler haben eben auch externen Zielen zu dienen, sind der Stolz einer Region oder werden gar als Faustpfand bei Kantonswechseln instrumentalisiert. All das ist weder der Qualität noch der Sicherheit der Gesundheitsversorgung förderlich.
Es gibt aber auch Situationen, die innovative Lösungen erfordern, innovative neue Geschäftsmodelle. Dasjenige des Liechtensteinischen Landeskrankenhauses ist ebenso vom Detailhandel inspiriert (Shop in the Shop) wie die Leitung der Orthopädie des Regionalspitals Biel durch die Orthopädische Klinik des Sonnenhofspitals Bern. Zentralgeleitete aber dezentral operative Leistungseinheiten (wie zum Beispiel in der Urologie) sind von der Systemgastronomie inspiriert (seit 1948 mit der Urform «Mövenpick»). - Ablasshandel oder ganzheitliche Führung? Was sich schon kurz nach der Annahme der Pflegeinitiative abzeichnete, wird zur Realität. Die Bereitschaft, Äusserliches zu verändern, ist wesentlich grösser als die Bereitschaft, innere Haltungen und Verhaltensweisen den Mitmenschen gegenüber zu revidieren. Die (durchaus notwendige) Verbesserung der Anstellungsbedingungen ersetzt die dringend notwendige Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht. Es wäre fatal, wenn der zweite Teil der Umsetzung der Pflegeinitiative mit einem «Bundesgesetz über die rechtzeitige Bekanntmachung der Dienstpläne von Akutkliniken» endete.
Eppur si muove – ja, aber es wäre sehr verdienstvoll, dabei etwas «nachzuhelfen». Der Kriechstrom dürfte auch fliessen.
▶ In dieser Rubrik äussern Vertreter aus dem Gesundheitswesen ihre Meinung zu aktuellen Themen.