Die Öffnung der obligatorischen Schulen ab dem 11. Mai 2020 sorgt für Verunsicherung bei Eltern und Lehrern. Es wird befürchtet, dass Kinder den Virus in den Schulen untereinander weitergeben und sich die Infektion wieder schneller ausbreitet. Der Bundesrat ist mit seiner Entscheidung zur Öffnung der Schulen den Empfehlung des Bundesamt für Gesundheit (BAG) gefolgt. Das BAG geht davon aus, dass von Kindern so gut wie kein Risiko einer Weitergabe des Viruses ausgeht. Sogar der Umgang von Kindern unter zehn Jahren mit den Grosseltern wurde ausdrücklich gebilligt. Wie eine aktuelle Studie an der Charite in Berlin jetzt feststellt, sind die Annahmen des BAG mit grosser Wahrscheinlichkeit falsch. Untersucht und verglichen wurden insgesamt 3712 positiv getestete Infizierte, die seit Beginn der Testungen an der Charité erfasst wurden. Unter diesen Positiven waren 37 Kinder im Kindergartenalter, 16 Grundschüler und 74 Jugendliche aus weiterführenden Schulen.
Grundprinzipen des BAG
Das BAG hat seine Annahmen zur Schulöffnung veröffentlicht in dem Schreiben «COVID-19 Grundprinzipien - Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts an obligatorischen Schulen als Grundlage für die Ausarbeitung der Schutzkonzepte der Schulen unter Berücksichtigung der Betreuungseinrichtungen und Musikschulen». Dort werden unter Punkt 2 folgende Annahmen definiert:
- Kinder erkranken viel weniger häufig als Erwachsene: gemäss Studien betreffen 1% der Erkrankungsfälle Kinder unter 10 Jahre, respektive 2% Kinder und Jugendliche unter 18 Jahre. Im Altersfenster zwischen 10 bis 19 Jahren nimmt die Erkrankungshäufigkeit kontinuierlich zu, bleibt aber niedrig.
- Kinder haben meist mildere Verläufe mit wenigen oder keinen Symptomen.
- Kinder spielen aus physiologischen Gründen für die Übertragung des Virus keine wesentliche Rolle.
- Ausserdem geht man davon aus, dass je weniger Symptome vorhanden sind, desto geringer die Virenlast und das Risiko einer Virenverbreitung durch Tröpfchenbildung (Husten, Niesen) ist (biologische Plausibilität).
- Gemäss den bisherigen Daten und Erfahrungen gibt es im Gegensatz zu den Erwachsenen keine besonders gefährdeten Personengruppen für COVID-19 bei Kindern, bei denen zusätzliche Schutzmassnahmen nötig sind
Studie widerlegt die Annahmen des BAG
Wie passt die Ergebnisse der Charité-Studie zu den Annahmen des BAG? Die Verfasser der Berliner Studie weisen darauf hin, dass Kinder zwar viel weniger häufig als Erwachsene erkranken (BAG Annahme 1), führen das aber auch auf die frühen Schulschliessungen zurück, die Überrepräsentation von Erkrankungen durch erwachsende Reisende und die seltenen Symptome der Krankheit bei Kindern, was auch zu weniger Tests führt, die die Krankheit erkennen könnten.
Unbestritten ist die BAG-Annahme unter Punkt 2: Kinder haben meist mildere Verläufe mit wenigen oder keinen Symptomen. Während bei Erwachsenen bei rund der Hälfte der Infizierten Symtome wie beispielsweise Husten, Fieber oder Halsschmerzen auftreten, übertragen die Kinder die Krankheit in der Regel ohne jede Spur der Erkrankung.
Die BAG Annahme unter Punkt 3, dass Kinder aus physiologischen Gründen für die Übertragung keine Rolle spielen, weil die Rezeptoren, die für eine Infektion mit Sars-CoV-2 nötig sind, bei Kindern unter 10 Jahren erst wenig ausgebildet sind, scheint nach der Studie nicht relevant. In der Studie wird festgestellt, dass Kinder unter zehn Jahren eine so grosse Virenlast tragen können, die allgemein als ausreichend für eine mögliche Weitergabe der Infektion angesehen wird.
Auch Punkt 4 der BAG-Annahme - je geringer die Symptome, desto geringer die Virenlast, wird durch die Studie wiederlegt. Die Carité-Forscher haben festgestellt, dass die Ausprägung der Symptome keine wesentliche Rolle für die Höhe der Virenlast spielt: «Die überwältigende Schlussfolgerung aus den drei Post-hoc-Testmethoden ist daher, dass keine signifikante Unterschiede in der Viruslast zwischen Altersgruppen bestehen.»
Kinder sind so infektiös wie Erwachsene
Die in der Studie beobachteten Viruslasten legen für die Forscher nahe, dass das Übertragungspotential in Schulen und Kindergärten unter Verwendung der gleichen Infektiositätsannahmen wie bei Erwachsenen bewertet werden sollte.
Auch wenn es Gründe gibt, so die Forscher, gegen die Vorstellung einer erwachsenenähnlichen Infektiosität bei Kindern zu argumentieren, wie zum Beispiel die Tatsache, dass asymptomatische Kinder das Virus nicht durch Husten verbreiten und weniger Luft ausatmen als Erwachsene, gibt es jedoch andere Argumente, die für eine Übertragung des Virus sprechen wie die größere körperliche Aktivität und das engere soziale Engagement von Kindern.
Basierend auf dem Fehlen statistischer Belege für ein anderes Viruslastprofil bei Kindern warnen die Forscher vor einer unbegrenzten Wiedereröffnung von Schulen und Kindergärtenin der gegenwärtigen Situation mit einer weithin anfälligen Bevölkerung und der Notwendigkeit, die Übertragungsraten durch nicht-pharmazeutische Interventionen niedrig zu halten: «Kinder können so ansteckend sein wie Erwachsene.»
Quellen:
Link zur Charité-Studie:
https://zoonosen.charite.de/fileadmin/user_upload/microsites/m_cc05/virologie-ccm/dateien_upload/Weitere_Dateien/analysis-of-SARS-CoV-2-viral-load-by-patient-age.pdf
Link zu den Annahmen des Bundes:
https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/empfehlungen-fuer-die-arbeitswelt.html#-225985002