Die Bevölkerungsgruppe der über 65-Jährigen nimmt zu, und bald wird jeder vierte Bewohner der Schweiz dazugehören. Die Zahl der über 80-Jährigen wird sich dabei verdoppeln. Damit die demografische Alterung der Bevölkerung bewältigt werden kann, kommt dem gesunden Älterwerden eine besondere Bedeutung zu. Erfreulicherweise sind gemäss der grössten Altersstudie Europas (DO-HEALTH Studie) in der Schweiz rund die Hälfte der 70-Jährigen sogenannte «healthy agers», das heisst frei von chronischen Krankheiten und in guter körperlicher und mentaler Gesundheit.
Aufgrund der im Alter veränderten Körperzusammensetzung ändern sich auch die Ernährungsbedürfnisse. Die Muskelmasse nimmt ab und wird mit Fettzellen durchsetzt. Dadurch nimmt der Energiebedarf vom 25. bis zum 75. Lebensjahr um einen Viertel ab. Da der Bedarf an Protein und Mikronährstoffen jedoch nicht abnimmt, bedeutet dies, dass die Ernährung nährstoffdichter sein muss. Konkret heisst dies, weniger «leere» Kalorien wie beispielsweise Süssigkeiten, fettreiche Speisen und Alkohol zu geniessen. Eine ideale Grundlage ist die mediterrane Ernährung: Sie ist nicht nur farbenfroh und schmackhaft, sondern liefert essenzielle Nährstoffe und sekundäre Pflanzenstoffe.
Zu Essgewohnheiten und der Ernährungssituation der selbstständig zu Hause lebenden Senioren liegen in der Schweiz erst wenige Daten vor. Die «menüCH»-Studie zeigt eine ausreichende Energieversorgung, jedoch erreichten weniger als 50 Prozent die Empfehlungen für die Proteinaufnahme. Im jungen und mittleren Alter essen die meisten eher zu viel Protein. Wie wichtig die Proteine im Alter sind, scheint noch wenig bekannt zu sein. Hier besteht ein offensichtliches Informationsdefizit, was das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen dazu bewogen hat, eine Informationsbroschüre für Senioren und Handlungsempfehlungen für Multiplikatoren zu erstellen.
Die besondere Bedeutung von Protein
Proteine sind wichtige Baustoffe für den Körper – insbesondere auch für die Muskulatur. Ein altersbedingter Abbau der Muskelmasse lässt sich nicht vermeiden. Jedoch begünstigt die ungenügende Proteinaufnahme den übermässigen Abbau und damit die Entstehung einer Sarkopenie. Diese basiert auf einer Kombination einer verminderten Muskelkraft, Muskelmassenverlust und Funktionseinbusse. Sie hat nicht nur schwerwiegende Konsequenzen für die Lebensqualität, sondern auch sozio-ökonomische Folgen: Eingeschränkte Mobilität, erhöhtes Sturzrisiko, Verlust der Selbstversorgungsfähigkeiten und Pflegeheimeinweisung.
Die gute Botschaft ist, dass durch proteinreiche Ernährung und gezieltes Muskeltraining auch bis ins hohe Alter noch Muskulatur aufgebaut werden kann und Kräftezuwachs möglich ist. Wesentlich dabei ist aber, dass die muskuläre Proteinsynthese im Alter nachlässt. Im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen braucht es im Alter zur Stimulation der muskulären Proteinsynthese insgesamt deutlich mehr Protein, welches idealerweise gleichmässig auf die drei Hauptmahlzeiten verteilt wird, jede Mahlzeit also 25 – 35 g Protein enthält. Empfehlenswert sind sowohl tierische wie auch pflanzliche Proteine.
Für jene, die Schwierigkeiten haben, mit natürlichen Lebensmitteln auf eine ausreichende Proteinmenge zu kommen, bietet sich Proteinpulver an. Empfehlenswert sind Molkenproteinisolate (Whey protein), denn sie enthalten einen hohen Anteil der Aminosäure Leucin, die den Muskelaufbau stimuliert. Der Effekt lässt sich steigern, wenn Protein in zeitlicher Nähe zu einer Trainingseinheit aufgenommen wird.
Risiko für Mangelernährung in Spitälern und Heimen
Deutlich schlechter sieht die Ernährungsversorgung älterer Personen in Spitälern, Rehabilitationskliniken und Pflegeheimen aus. In Akutspitälern isst jeder Dritte zu wenig und hat damit ein Risiko für eine Mangelernährung. Eine eigene Erhebung in der Universitären Altersmedizin Felix Platter bei dreihundert geriatrischen Patienten (Durchschnittsalter 84 Jahre) zeigte ein Risiko für Malnutrition bei über der Hälfte und eine Sarkopenie bei 22 Prozent. In einer grossen Schweizer Untersuchung dieser Patientengruppe betrug die Energieaufnahme gerade einmal 18 kcal/kg und 0,7 g Protein pro Kilogramm Körpergewicht. Noch geringer war die Versorgung von hochbetagten Patienten mit einer Schenkelhalsfraktur mit 14 kcal/kg und 0,5 g Protein pro Kilogramm Körpergewicht, was nicht einmal der Hälfte des Bedarfes entspricht.
Gründe für reduzierte Nahrungsaufnahme können altersbedingt sein, durch nachlassenden Geruchs- und Geschmackssinn, reduzierter Kaufähigkeit oder – vor allem bei akuter oder chronischer Krankheit – Appetitlosigkeit infolge erhöhter Zytokin-Werte. Während diese Faktoren nur geringfügig beeinflussbar sind, gilt es bei der Optimierung des Nahrungsangebotes und dem Verpflegungsprozess anzusetzen. Untersuchungen zeigen, dass etwa ein Drittel der Spitalpatienten die Hälfte des Servierten zurückgibt. Die Gründe dafür reichen von «Essen schmeckt nicht», keine Unterstützung bei Öffnen von Packungen, Schneiden oder Hilfe bei der Mahlzeitenaufnahme, schlechte Position oder Unerreichbarkeit des Bereitgestellten, Unterbrechungen der Mahlzeit für medizinische oder therapeutische Zwecke oder Nüchternheit für Untersuchungen. Neben den gesundheitlichen Auswirkungen hat dies auch mit dadurch entstehendem
«Foodwaste» – also der Entsorgung von überschüssigen Lebensmitteln – finanzielle und ökologische Folgen.
Verbindliche Standards fehlen
Bis anhin fehlen in der Schweiz verbindliche Qualitätsstandards für die Verpflegung im Spital oder in Heimen. Spitalpatienten, ältere Patienten und Behinderte haben ein hohes Risiko für eine Mangelernährung. Für die Zertifizierung der Qualitätssicherung und Qualitätsförderung in Akutsomatik und Langzeitpflegeeinrichtungen gibt es von Sanacert den Standard «Ernährung» sowie «Essen und Trinken». Diese verlangen ein Ernährungskonzept für eine dem Gesundheitszustand angepasste Verpflegung, eine Regelung zur Erfassung des Ernährungszustandes mit Massnahmenplanung sowie eine ernährungsspezifische Mitarbeiterfortbildung. Ein hilfreiches Arbeitsinstrument zur Entwicklung eines Ernährungskonzeptes wurde von Curaviva erarbeitet. Es beinhaltet Aspekte zur Prävention, Erfassung und Behandlung der Mangelernährung. Dabei gilt immer «food first», also die Optimierung der oralen Ernährung mit normalen Lebensmitteln: Anpassung an Vorlieben, Anbieten von Zwischenmahlzeiten und Anreicherung von Menüs. Dies ist nur mit ausreichendem Personal, einer engagierten Küchencrew und einem entsprechenden Budget zu leisten.
Spezielles Menü «Compact»
Das Felix Platter setzt die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse um und ist selbst aktiv in der Forschung und Entwicklung zur Ernährung, Mobilität und Kognition. So wurde das Menü «Compact» entwickelt, welches in altersgerechter Menge in kompakter Form die wichtigen Nährstoffe liefert. Die Menüs werden täglich frisch gekocht, und lokale Lieferanten werden bevorzugt. Die lange aus der Spitalküche verbannten Spiegeleier und weitere beliebte Eierspeisen sind wieder integriert im Menüplan und liefern hochwertiges Protein für die Muskulatur. Um die synergistischen Aspekte von Protein und Bewegung auszunutzen, erhalten die Patienten im Rahmen der physiotherapeutischen Rehabilitationsmassnahmen einen leucinangereicherten energiearmen Molke-Drink, welcher zusammen mit einer jungen Start-up-Firma entwickelt wurde. In einem weiteren Forschungsprojekt wird an einer automatisierten digitalen Version des Essprotokolls gearbeitet. Damit soll einerseits eine ungenügende Energie- und Nährstoffaufnahme rascher erkannt werden, andererseits auch das Menüangebot optimiert und dadurch der Lebensmittelabfall reduziert werden.
Literatur und weiterführende Informationen:
Gesund essen – fit bleiben. Ernährung ab 65. BLV 2020
Schweizer Ernährungsempfehlungen für ältere Erwachsene – Information für Fachpersonen und Multiplikatoren. BLV 2019
Ernährung im Alter – Ein Expertenbericht der Eidgenössischen Ernährungskommission EEK. Bern 2018
Leitfaden «Mangelernährung/Malnutrition» – Empfehlungen zum Umgang mit der Thematik in Alters- und Pflegeheimen. Curaviva 2017
Ernährung – Standard 15, Sanacert 2019 und Essen und Trinken – Standard 58. Sanacert 2020
Schuetz P., et al. Individualised nutritional support in medical inpatients at nutritional risk: a randomised clinical trial. Lancet 2019
Rosenberger C., Rechsteiner M., Dietsche R., Breidert M. Energy and protein intake in 330 geriatric orthopaedic patients: Are the current nutrition guidelines
applicable? Clin Nutr. 2019