Der Bundesrat erläutert in der Verordnung vom 16. März, dass mit den zu sistierende Eingriffen und Therapien sogenannte «Wahleingriffe oder weitere aus medizinischer Sicht nicht dringliche und damit verschiebbare Eingriffe und Behandlungen» gemeint sind. Zudem ergänzte der Bundesrat am 20. März, dass als nicht dringend angezeigt Eingriffe gelten, die:
a. zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden können, ohne dass bei der betroffenen Person Nachteile zu erwarten sind, die über geringe physische und psychische Beschwerden und Beeinträchtigungen hinausgehen; oder
b. überwiegend oder vollständig ästhetischen Zwecken, der Steigerung der Leistungsfähigkeit oder dem Wohlbefinden dienen.
Damit will der Bundesrat erreichen, dass sich in Spitälern oder anderen Gesundheitseinrichtungen nur Personen aufhalten, die unmittelbar eine Behandlung benötigen und zurzeit nicht notwendige Eingriffe keine Kapazitäten und Ressourcen binden, die eventuell zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit COVID-19-Infektion benötigt werden (Personalressourcen, Infrastrukturen, Heilmittel und Verbrauchsmaterial). Zudem fügt der der Bundesrat hinzu dass «alle ärztlich verordneten Behandlungen und Therapien als nötig und nicht aufschiebbar (z.B. ärztlich verordnete Physiotherapie etc.)» gelten.
Wie sollen Gesundheitseinrichtungen jetzt konkret mit dieser Anordung umgehen?
Experten raten zur 90 Tage Triage
Die auf das Gesundheitswesen spezialisierten Anwälte Daniel Staffelbach und Martin Zobl, beide tätig für Walderwyss in Zürich, haben dazu aktuell ihre Kunden informiert. Wir zitieren an dieser Stelle aus dem Schreiben:
Praktische Gesichtspunkte – vorausschauende Planung und Ressourceneinteilung
Trotz der bundesrätlichen Erläuterungen bleiben die Tragweite der neuen Regelung und die konkret anzuwendenden Kriterien unklar. Den behandelnden Ärztinnen und Ärzten bzw. den zuständigen Gesundheitseinrichtungen kommt daher ein erheblicher medizinisches Beurteilungsspielraum zu hinsichtlich der Frage, auf welche medizinischen Eingriffe und Therapien mangels Dringlichkeit verzichtet werden muss.
Nach unserem Verständnis ist die «Dringlichkeit» bzw. «Verschiebbarkeit“ einer Behandlung oder Therapie im Lichte der vorhandenen Ressourcen und einer vorausschauenden Planung zu beurteilen. Konkret scheinen uns folgende Gesichtspunkte wesentlich: Aktuell gibt es noch verhältnismässig wenige stationäre COVID-19-Patientinnen und -Patienten, die das System belasten. Die Pandemie wird sich aber mit grosser Wahrscheinlichkeit weiter ausbreiten und wird nicht in der erhofften Geschwindigkeit einzudämmen sein.
Entsprechend besteht das Risiko, dass das vom Bundesrat verfügte Massnahmenpaket, einschliesslich des Artikels 10a COVID-19-Verordnung 2, auf zwei, wenn nicht sogar drei Monate verlängert werden wird. Folglich ist nur verschiebbar, was tatsächlich über diese Phase hinaus verschiebbar ist. Dies dürfte für all diejenigen Eingriffe gelten, deren Nichtvornahme in den kommenden zwei bis drei Monaten keine oder höchstens sehr beschränkte und nicht irreversible gesundheitlichen Folgen für die betroffenen Patientinnen und Patienten haben oder der Leidensdruck nicht massgeblich ist.
Viele Eingriffe werden hingegen besser jetzt, wo das Gesundheitssystem noch nicht belastet ist, durchgeführt als nach hinten in die Krisenzeit hinein verschoben. Zu denken ist hier an Behandlungen oder Therapien, die vielleicht nicht innerhalb der kommenden zwei Wochen, jedoch innerhalb der kommenden zwei bis drei Monate mit grosser Wahrscheinlichkeit dringlich werden.
Keine Strafbarkeit
Die Strafbestimmung der COVID-19-Verordnung 2 bezieht sich ausdrücklich nur auf Art. 6 (Veranstaltungen und Betriebe) und nicht auf Art. 10a (Pflichten der Gesundheitseinrichtungen). Offenbar liess sich der Bundesrat (zu Recht) vom Gedanken leiten, dass der Begriff «auf nicht dringend angezeigte medizinische Eingriffe und Therapien» auslegungsbedürftig ist und den Ärztinnen und Ärzte bzw. den Gesundheitseinrichtungen einen weitgehenden Interpretationsspielraum belässt.
Fazit
Es ist davon auszugehen, dass das schweizerische Gesundheitssystem innert der nächsten 14 Tage auf eine hohe Belastung mit COVID-19-Patientinnen und Patienten zusteuert und dass die Krise bzw. der «Lockdown» zwei bis drei Monate andauert. Vor diesem Hintergrund bietet sich folgende Triage an:
- Eingriffe und Behandlungen, die nicht mehr als 90 Tage hinausgezögert werden können, werden besser sofort, d.h. noch vor der COVID-19-Belastung, durchgeführt, als während der Belastungsphase.
- Eingriffe und Behandlungen, die mindestens 90 Tage hinausgezögert werden können, sollten erst nach der COVID-19-Krise vorgenommen werden. Dies dürfte insbesondere für Eingriffe gelten, deren Nichtvornahme keine oder höchstes sehr beschränkte gesundheitlichen Folgen für die betroffenen Patientinnen und Patienten haben.
Jeder Eingriff beinhaltet Chancen und Risiken, die es abzuwägen gilt. Die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines Eingriffs ist eine medizinische Frage. Aktuell ist die COVID-19-Krise im Sinne einer vorausschauenden Planung in diese Beurteilung einzubeziehen, die Patientinnen und Patienten sind hierzu aufzuklären. Leistungserbringer sind gehalten, den Entscheid gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten zu fällen und die Gründe für den Entscheid entsprechend in der Krankengeschichte zu dokumentieren.
(Martin Zobl Dr. iur., LL.M., Rechtsanwalt Telefon +41 58 658 55 35 martin.zobl@walderwyss.com Daniel Staffelbach Rechtsanwalt, Partner Telefon +41 58 658 56 50 daniel.staffelbach@walderwyss.com)
Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten Tagen die Gesundheitsdirektionen der Kantone die Anordnung des Bundesrates weiter präzisieren werden. Als erster Kanton hat bereits der Kanton Zürich reagiert und am 17. März eine Anordnung an alle Spitäer erlassen. Darin benennt der Kanton den Zeitpunkt, ab wann die neue Regelung gelten soll - ab Samstag, den 21. März 2020 - und nennt Beispiele für die Praxis:
2.1. Sistierung vermeidbarer Eingriffe
Ab Samstaq, 21. Mäz 2020, dürfen Akutspitäler keine nicht dringend angezeigten medizinischen Eingriffe und Therapien mehr vornehmen (Art. 19 COVID-1g-Verordnung 2). Ziel dieser Massnahme ist es die, für die Bekämpfung von COVID-19 erforderlichen Infrastrukturen sowie Personal und Schutzmaterial zur Verfügung zu halten.
Zulässig sind nur solche operativen Eingriffe, die bei ihrer Unterlassung:
- zu einer Verkürzung der Lebenserwartung führen,
- die zu einer bleibenden Schädigung führen,
- zu einem erheblichen Risiko für eine massive Verschlechterung der Situation oder
- zu einer notfallmässigen Hospitalisation in den nächsten drei Monate führt oder
- die Lebensqualität in ausserordentlichem Mass verschlechtert (insbesondere Schmerz)
lnsbesondere bei Eingriffen, welche die IPS-Kapazitäten binden, ist besondere Zurückhaltung angezeigt.
Beispiele für zulässige Eingriffe:
- Tumorchirurgie aller Disziplinen mit ansonsten schädigendem oder tödlichemVerlauf,
- Gefässoperationen, die bei Unterlassung zum permanenten Verlust der Funktion einer Extremität führen,
- lrreponible oder inkazerierte Hernien aller Art,
- Gelenksoperationen welche bei Unterlassung zu einer bleibenden Funktionseinschränkung führen,
- Frakturen, die nicht konservativ behandelt werden können,
- Rückenoperationen mit Ausfallerschei nungen oder unbeherrschbaren Schmerzen,
- sämtliche Eingriffe rund um Schwangerschaft und Geburt,
- Eingriff bei lnfektionszuständen, konservativ nicht beherrscht werden können (Asp.Abszesse),
- Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit von Medizinalpersonen.
Reine Vorsorge- und Routineuntersuchungen sind unzulässig.
(aus der «Anordnungen und Empfehlungen an Spitäler betreffend Corona-Virus» vom 17. März 2020 der GD Zürich)