So verschieden die Akutsomatik von der Langzeitpflege auch sein mag, eine grosse Gemeinsamkeit haben sie jedoch – und zwar den doppelten Druck im Gesundheitswesen. Auf der einen Seite spüren die beiden Bereiche den zunehmenden wirtschaftlichen Druck. Auf der anderen Seite werden PatientInnen und ihre Angehörigen bei gleichzeitig wachsender Nachfrage anspruchsvoller. Der Druck führt dazu, dass sich Organisationen mehr mit der Prozessgestaltung auseinandersetzen. Prozesse werden kontinuierlich optimiert, wobei PatientInnen klar im Fokus stehen müssen (Angerer et al.,2018)
Lean in Alters- und Pflegeheimen
Inzwischen sind viele Lean-Fallbeispiele aus der Spitalpraxis, die eindrückliche Qualitäts- und Effizienzsteigerungen aufweisen, bekannt. Doch eine grosse
Mehrheit der bekannten Lean-Projekte stammt aus der stationären Akutsomatik. Aber wie ist der Status quo in der stationären Langzeitpflege? Vermehrte Anfragen von Alters- und Pflegeheimen (APH) an das Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie der ZHAW weisen darauf hin, dass die Lean-Philosophie auch in APHs als Chance gesehen wird, um dem eingangs erwähnten Druck entgegenzuwirken: Die Kosten steigen, Abläufe werden komplexer und von den Mitarbeitenden werden immer mehr Leistungen bei knapperen Ressourcen verlangt. Ohne eine systematische Optimierung der Arbeitsabläufe werden viele Organisationen an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gedrängt. Da scheint der Einsatz von Lean vorbestimmt zu sein.
Wenn es so offensichtlich ist, dass für Lean in APH ein beachtliches Potenzial vermutet wird, warum hört man so selten von echten Praxisbeispielen? Eine Ursache dafür könnte sein, dass sich Lean grundsätzlich nicht gut für die spezifischen Herausforderungen im Langzeitpflegebereich eignet – oder zumindest stark adaptiert werden muss. Eine vermeintlich weitere Ursache könnte sein, dass die APHs aufgrund des wirtschaftlichen Drucks keine Zeit für Lean-Management aufwenden können, da die Implementierung anfangs zusätzlichen Aufwand bedeuten würde. Um die Ursachen für den bisher vermutlich geringen Einsatz von Lean in der Langzeitpflege zu untersuchen, hat das ZHAW-Team eine zweigleisige Methode angewendet. Zum einen wurde in internen Workshops im Austausch mit einer APH-Organisation konzeptionell erarbeitet, wie Lean in der Langzeitpflege aussehen könnte. Zum anderen hat das Team in einem Literaturreview bestehende Erkenntnisse in der Anwendung von Lean im APH-Bereich analysiert.
Konzeptionelle Überlegungen: Lean im APH
Zunächst werden die Grundprinzipien der Lean-Philosophie vorgestellt, um zu verstehen, ob der Einsatz von Lean im APH-Bereich grundsätzlich problematisch
sein könnte. Ziel von Lean-Management ist es, einen Mehrwert für die PatientInnen zu schaffen, indem Prozesse optimiert und sogenannte «Muda» (Verschwendungen) eliminiert werden. Muda ist das japanische Wort für Verschwendung und wird als jene Aktivität verstanden, die Ressourcen verbraucht, also Kosten verursacht, aber keinen Wert erzeugt. Auch in Heimen gibt es diese nicht-wertschöpfenden Tätigkeiten, beispielsweise in Form von unverhältnismässig aufwendiger Dokumentation, die in diesem Umfang gar nicht benötigt wird und somit keinen Mehrwert für die BewohnerInnen schafft. Wenn eine solche Verschwendung identifiziert wird, sollte sie kontinuierlich durch die APH-Mitarbeitenden selbst eliminiert werden – beispielsweise in Form von Kaizen-Werkzeugen wie dem Kaizen-Board (siehe Info-Box) (Angerer et al., 2018).
Nun stellt sich die Frage, ob sich ein Kaizen-Board grundsätzlich für den Einsatz in einer APH-Einrichtung eignet. Die Antwort im Gespräch mit Mitarbeiten-den aus solchen Häusern ist eindeutig: Natürlich wäre der Einsatz möglich und sogar sehr erwünscht. Die üblichen Einsatz-Hürden, die aber bei allen anderen
Leistungserbringern auch genannt werden, werden aufgeführt: Wir haben keine Zeit, uns fehlt das Know-how, der Einsatz wird nicht von der Führung unterstützt.
Insgesamt zeichnen die Workshops ein klares Bild: Es spricht prinzipiell nichts gegen den Einsatz fast aller Tools aus dem Lean-Werkzeugkasten. Höchstens
kleinere Anpassungen der Werkzeuge und Schwerpunkte sind notwendig. Damit kann Lean auch in APHs sehr schnell eingesetzt werden. Wesentlich dafür ist, dass die Entscheidungsträger sowie alle Mitarbeitenden den Einsatz motiviert unterstützen.
Lean-APH in der Literatur: Die Nadel im Heuhaufen
Der zweite Schritt der ZHAW-Recherche war die Analyse bestehender Lean-Implementierungen in wissenschaftlichen Datenbanken. Diese Suche gestaltete
sich als schwierig, denn der Eindruck aus der Praxis hat sich schnell bewahrheitet: Nur ein Bruchteil der Artikel zu Lean im Gesundheitsbereich beschäftigt
sich mit APH-Settings. Die wenigen gefundenen Studien geben jedoch Anlass zur Hoffnung. Beispielsweise befragte Knaup (2016) in sechs unterschiedlichen
APHs BewohnerInnen zu ihrer Zufriedenheit. Gemessen wurden Dimensionen wie «Ernährung/Verpflegung», «Pflege/Betreuung», «Aktivitäten» und «Zimmer/
Privatsphäre». Untersucht wurde, ob sich schlechte Prozesse mit einem hohen Anteil an «Muda» tatsächlich negativ auf die Zufriedenheit der BewohnerInnen
auswirken. Das Ergebnis der Analyse stimmt mit unseren Vermutungen überein. So lässt sich beispielsweise die Zufriedenheit der Dimension «Zimmer/Privatsphäre» zu 94 Prozent auf die Organisation der Prozesse und die Vermeidung von Fehlern zurückführen. Wer mithilfe von Lean-Management diese Prozesse effizient gestaltet, kann langfristig die Zufriedenheit der BewohnerInnen steigern. Eine weitere Studie aus zwei schwedischen Pflegeheimen (Andersson et al., 2015) zeigt, dass Lean nicht nur dabei hilft, die oben genannten Probleme zu finden und ihre Ursachen zu verstehen. Lean ist auch nützlich, um Störungen zu beseitigen. Die nach Lean optimierten APHs zeigten viele Vorteile: eine bessere Kommunikation, eine reibungslosere Organisation sowie besser fliessende Arbeitsabläufe.
Warten auf Schweizer Leuchttürme
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Noch sind die guten Beispiele für Lean im Schweizer APH-Bereich sehr dünn gesät. Aus den Workshops konnte die
Forschungsgruppe jedoch eindeutig ermitteln, dass dieses Defizit nicht der Lean-Methodik an sich geschuldet ist. Beispiele aus dem Ausland zeigen, dass
dieser innovative Ansatz viel Potenzial birgt. Führungskräfte aus APHs sollten bereits umgesetzte Lean-Werkzeuge und Prinzipien aus der Akutsomatik nun auch bei sich im Haus testen und einsetzen. Gerade die Coronapandemie zeigt, wie wichtig reibungslose, flexible Prozesse sind. Nur die Organisationen, die die Alltagsprozesse unter Kontrolle haben, haben auch die Flexibilität, in Ausnahmezeiten zurechtzukommen. Sobald sich die derzeitige Lage etwas beruhigt, wird auch Einrichtungen der Langzeitbetreuung empfohlen, Zeit zu investieren, um den Schritt in Richtung einer Lean-Organisation zu wagen.