Er schlägt vor, dass diese Personen eine saftige Ordnungsbusse bezahlen müssen, namentlich erfasst werden und anderen Coronapatienten den Vortritt gewähren müssen, falls die Spitäler schweizweit überlastet sind. Für Oggier wäre es fairer, wenn «der selbst ernannte Corona-Rebell» das Nachsehen habe, als wenn es einfach den ältesten Patienten im Raum treffe. Mit dieser Forderung hat Willy Oggier auf Twitter und Facebook einen heftigen Shitstorm ausgelöst. So stark wie die moralische Entrüstung der meisten Empörten, so oberflächlich waren viele ihrer Argumente.
Eines ist sicher: Wenn die Spitäler an ihre Grenzen stossen, müssen die Ärzte entscheiden, wem sie das letzte Bett geben. Es geht hier also nicht darum, wie eine Überlastung der Intensivstationen verhindert werden muss, sondern wie eine ethisch vertretbare Triage gemacht werden soll, falls es halt doch zur Überlastung kommt. Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat ihre Richtlinien zur Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit angepasst und am 20. März 2020 veröffentlicht. Sie werden, wenn es die Erfahrungen in der Praxis oder neue wissenschaftliche Erkenntnisse erfordern, laufend angepasst. Missachtete Schutzvorschriften bei der Triage zu berücksichtigen, falls das Epidemiengesetz dies verlangen würde, wäre wohl für die SAMW eine ethische Herausforderung. Eine ethische Diskussion sollte insbesondere angesichts der Fachpersonen, die am Limit für Coronapatienten arbeiten, kein Tabu sein.
Wer nun findet, wenn man «Corona-Rebellen» bei der Triage gemäss Verursacherprinzip bestrafen sollte, müsste man das doch generell mit Rauchern und Alkoholikern auch so machen, argumentiert ethisch sehr holprig. Erstens sollte man die Folgen von Suchtkrankheiten nicht mit den Folgen fahrlässiger oder gar mutwilliger Verhaltensweisen gleichsetzen. Zweitens zeigt die Coronakrise, dass wir uns früher oder später mit der Frage beschäftigen sollten, ob und wie Leistungskürzungen in der obligatorischen Krankenversicherung für die Folgen grobfahrlässiger Verhaltensweisen eingeführt werden, wie das bei der obligatorischen Unfallversicherung schon jetzt der Fall ist. Es wäre durchaus sinnvoll, dort damit zu beginnen, wo die Krankheit eine nachweisbare Folge des schädlichen Verhaltens ist, wie das bei Unfällen stets gemacht werden muss.
Insofern sind zum Beispiel die Folgen von Komatrinken und Alkohol am Steuer eher mit der Verweigerung, die Corona-Schutzmassnahmen zu befolgen, vergleichbar als mit Suchtkrankheiten. Als diskriminierend und verfassungswidrig bezeichnet der Medizinethiker Manuel Trachsel Oggiers Forderung und bezieht sich allen Ernstes auf das Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung. Falls Oggiers Forderung tatsächlich ein Triagekriterium werden sollte, hätte das rein gar nichts mit der Herkunft, der Rasse, dem Geschlecht, dem Alter, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder gar wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung gemäss Bundesverfassung zu tun, sondern ganz einfach mit der mutwilligen Weigerung, die Schutzmassnahmen zu befolgen. Anstatt mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip der Bundesverfassung zu argumentieren, macht Trachsel einen zweifelhaften Vergleich und meint, dass in einem modernen Rechtsstaat wie der Schweiz nicht einmal die schlimmsten Straftäter ihr Recht auf Leben und im Notfall auf eine intensivmedizinische Versorgung verlieren. Wenn ein Mörder einen Lungenkrebs bekommt, hat das ja nichts mit dem Mord zu tun. Der Mord wäre also bei fehlenden Ressourcen weder für die Behandlung des Lungenkrebses noch für diejenige von Corona ein Triagekriterium. Auch Trachsels drittes Argument irritiert. Er befürchtet einen Dammbruch mit ähnlichen Forderungen in anderen Bereichen und argumentiert: «Wer sich nicht der Mehrheit anpasst, soll weniger Rechte haben.» Wie kommt er darauf? Das Einhalten der Corona-Schutzmassnahmen hat doch wie das Einhalten der Verkehrsregeln nichts mit Mehrheiten zu tun. Die Sanktionen auch nicht. Welche Regeln gelten und wie Regelverletzungen sanktioniert werden aber schon.
Professionelles Entscheiden und Handeln setzt auch ethisches Reflektieren voraus. Dieses muss in der aktuellen Krise stets die gesundheitliche, gesellschaftliche und ökonomische Seite betrachten, denn gesundheitlicher Schaden führt zu gesellschaftlichem sowie wirtschaftlichem Schaden und umgekehrt. Und professionelle Entscheide müssen stets verhältnismässig sein sowie alle relevanten Faktoren berücksichtigen. Es ist angesichts der gigantischen gesundheitlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schäden, welche die Coronapandemie schon verursacht hat und noch verursachen wird, richtig und wichtig, ohne Tabus darüber nachzudenken, wie Verhalten, das die Verbreitung des Virus begünstigt, sanktioniert werden kann, damit Solidarität und Eigenverantwortung im Gleichgewicht bleiben.