Riopelle prüfte die Werte. Einige Stunden später schoben Ärzte seinen Freund auf einer Krankentrage in die Notfallstation. Die Niere versagte, sein Freund erhielt eine Spenderniere. Heute ist Riopelle Mitgründer eines US-Start-ups, das Gesundheitsdaten analysiert und Nierenversagen vorhersagen kann, bevor schwere Symptome auftreten. Dadurch können Patientinnen und Patienten frühzeitig behandelt werden. Die Effektivität solcher Programme konnten Forscher mit elektronischen Patientendossiers aus den USA und Israel belegen.
Was nützen Gesundheitsdatenökosysteme
In digitalen Gesundheitsdatenökosystemen können Menschen Daten digital erheben, bearbeiten, speichern, teilen und damit neue Lösungen entwickeln. Daraus entsteht Nutzen in drei Kategorien: Patientinnen und Patienten profitieren von personalisierter Medizin, bei der sie mit ihren Daten ihre Therapien auf eigene Bedürfnisse massschneidern und mitgestalten können. Das Universitätsspital Zürich bietet beispielsweise mit Roche und der Foundation Medicine aus den USA einen Tumortest an. Basierend auf einer Gewebeprobe erhält der Arzt ein genomisches Tumorprofil des Patienten und einen individualisierten Bericht mit möglichen Therapieoptionen.
Forscher brauchen Gesundheitsdaten für medizinischen Fortschritt. Wenn sie Daten verlinken können, lassen sich neue Hypothesen bilden und testen. Wie reagieren Menschen mit seltenen Krankheiten auf die Covid-Impfung? Erst mit genügend grossen Kohorten können solche Fragen beantwortet und Lösungen entwickelt werden. Dabei geht es nicht um Rückschlüsse auf Personen. Es braucht anonymisierbare Daten, die sich aggregieren lassen.
Letztlich sind digitale Datenökosysteme das Fundament eines nachhaltigen Gesundheitswesens. Sie unterstützen Entscheidungsträger. Wer in Echtzeit weiss, wer sich wo mit einem Virus ansteckt, kann rechtzeitig handeln. Datenökosysteme ermöglichen auch, im Gesundheitswesen weg von der heutigen Abrechnungs- hin zu einer Ergebnisorientierung zu gelangen. McKinsey und die ETH Zürich haben vorgerechnet, dass die Schweiz mit der Digitalisierung und dem Aufbau eines Gesundheitsdatenökosystems jährlich über acht Milliarden Franken einsparen könnte. Die Ressourcen könnten Leistungserbringer für mehr patientenfokussierte Aktivitäten aufwenden.
Schweiz wird abgehängt
Viele Länder investieren in ihre Gesundheitsdatenökosysteme. Dabei entwickeln sich drei Modelle. In den USA ist ein Markt für Gesundheitsdaten entstanden. In China herrscht die Regierung über diese Daten. Ein drittes Modell zeichnet sich in Europa ab. Inspiriert von Finnland, das erste Land mit einem Gesetz für die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten und einer Bewilligungsbehörde, hat die Europäische Union Gesetze für ihren Europäischen Gesundheitsdatenraum und einen entsprechenden Finanz-Plan vorgelegt. In diesem Ökosystem sollen die Bürgerinnen und Bürger die Hoheit über ihre Daten haben, aber diese auch für bessere Versorgung, mehr Innovation und wirksamere politische Massnahmen genutzt werden können.
Leider überrascht es nicht, dass Beispiele über Innovation oder Forschung mit digitalen Gesundheitsdaten nicht aus der Schweiz stammen. Denn hier werden solche kaum genutzt, weshalb wir in Rankings wie dem «Digital Health Index» der Bertelsmann-Stiftung auf den hintersten Plätzen liegen. Das bedroht den Zugang der Menschen in der Schweiz zu erstklassiger Medizin. Eine Studie von BAK Economics zeigt, wie stark der Forschungsstandort Schweiz bereits heute unter diesen Rückständen leidet. Bei den Anmeldungen von Pharma-Patenten mit digitalen Elementen ist die Schweiz nicht mehr führend, andere Standorte wachsen stärker.
Handlungsbedarf erkannt
Wie kann die Schweiz den Rückstand aufholen? Erstens braucht es eine umfassende und kohärente Strategie zum Aufbau dieses Systems, das auf einer gemeinsamen Vision fusst. Nur gut durchdacht entfalten Gesundheitsdatenökosysteme ihren vollen Nutzen. So muss etwa nicht nur sichergestellt werden, dass die Menschen den Wert des Teilens ihrer Daten kennen. Es müssen auch Anreize bestehen, diese Daten zu strukturieren und verfügbar zu machen. Denn wenn beispielsweise Gesundheitsfachpersonen künftig für die Erhebung der Daten unterschiedliche, inkompatible Programme nutzen müssen, bleibt eines der Versprechen der Digitalisierung – die Einsparung von Zeit für wirklich patientenfokussierte Aktivitäten – uneingelöst. Deswegen braucht es gemeinsame Standards, interoperable Schnittstellen und eine angemessene Vergütung.
Zweitens müssen wir uns in der Schweiz klar darüber werden, wie wir Gesundheitsdaten nutzen wollen, welche Governance zur Sicherstellung der richtigen Balance zwischen Datenschutz und Datennutzung nötig ist und wie wir den Aufbau dieser Infrastruktur sowie das System finanzieren wollen. Nur mit einer gemeinsamen Vision, in die alle Anspruchsgruppen miteinbezogen werden, kann es gelingen, den nötigen politischen Willen und Führung aufzubringen, um international nicht völlig den Anschluss zu verlieren.
Ein Gesundheitsdatengesetz als Grundlage
Die Schweiz startet spät in die Transformation ihres Gesundheitswesens. Mit dem Richtungsentscheid zum elektronischen Patientendossier und dem Bericht «Bessere Nutzung von Gesundheitsdaten für eine qualitativ hochstehende und effiziente Gesundheitsversorgung» hat der Bundesrat nun aber Ansätze präsentiert. Zwei wichtige Elemente sind darin erkennbar: Einerseits muss die Schweiz die Nutzung von Gesundheitsdaten rechtlich absichern. Die Regeln sind derzeit oft mit Unsicherheit verbunden, uneinheitlich und fragmentiert, was gute Projekte verhindert. Ein transparenter Rahmen in einem Gesundheitsdatengesetz, das den Datenschutz ergänzt, ist wichtig. Dieses Gesetz könnte die Grundlage für das zweite Element sein: Um das Vertrauen in das System zu stärken, wäre eine schlanke, unabhängige Institution wie in Finnland hilfreich. Diese sollte, basierend auf dem Gesetz, die Nutzung von Gesundheitsdaten unbürokratisch bewilligen und ermöglichen.
Der Bericht des Bundesrats ist hilfreich, aber noch keine umfassende Strategie, die es brauchen würde, um mit dem nötigen Nachdruck und Tempo diese wichtige Aufgabe anzugehen. Die derzeit entstehenden Fachgruppen zwischen Bundesverwaltung und externen Experten könnten ein Weg sein, gemeinsam eine solche Strategie zu entwickeln und umzusetzen – etwa mit einem Gesundheitsdaten(nutzungs)gesetz. Denn nur gemeinsam mit allen Anspruchsgruppen kann die Schweiz den Rückstand aufholen und das Schweizer Gesundheitswesen auf ein zukunftsfähiges und nachhaltiges Fundament stellen. Die forschende pharmazeutische Industrie ist bereit, hier ihren Beitrag zu leisten.
(1) Geschichte entlehnt aus: Campbell, S. (2022). A Denver Startup is Raising Millions By Betting on the Health of Your Kidneys. 5280 Health. Abgerufen 7. Juli 2022 von https:// www.5280.com/2021/12/a-denver-startup-is-raising-millionsby-betting-on-the-health-of-your-kidneys/