Rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung leidet gemäss Gesundheitsstudie der CSS Versicherung unter psychischen Problemen. Die Unterversorgung im Bereich der psychischen Gesundheit zeigt sich aktuell vor allem bei psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen, die teils monatelange Wartezeiten erdulden müssen, bevor sie eine Behandlung erhalten. Die Situation hat sich auch nach dem Ende der Covid-Pandemie nicht verbessert, sondern im Gegenteil eher zugespitzt, die Umfragen von Pro Mente Sana und der CSS nahelegen. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen ab zehn Jahren schätzen die psychische Belastung im August als «hoch» (30%, Pro Mente Sana) oder «sehr hoch» (26%) ein.
Medial wird wiederholt auf die Problematik der Unterversorgung im Bereich psychischer Erkrankungen und die Nachwuchs- und Sprachprobleme der Psychiaterinnen und Psychiater hingewiesen, zuletzt in der NZZ am Sonntag in der Ausgabe vom 18. September. Unerwähnt bleibt dabei aber oft, dass es genügend sehr gut qualifizierte psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten gibt, die die Sprache der jeweiligen Landesregion beherrschen. Sie können zumindest einen Teil der Unter- und Mangelversorgung beheben.
Schon heute behandeln psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten 39 Prozent der psychisch kranken Menschen in der Schweiz. Dieser Anteil kann in der Zukunft noch gesteigert werden.
Genügend psychologische PsychotherapeutInnen, aber zu wenige Therapieplätze
Denn anders als bei Psychiaterinnen und Psychiatern gibt es in der psychologischen Psychotherapie genügend Fachkräfte. Diese sind zudem bestens qualifiziert: Um Psychotherapie anbieten zu dürfen, müssen Psychologinnen und Psychologen nach ihrem fünfjährigen Studium der Psychologie eine Weiterbildung im Rahmen von 4 bis 6 Jahren absolvieren, um einen Fachtitel in Psychotherapie zu erlangen. Ihre Leistungen können sie über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abrechnen, wenn sie mindestens 3 Jahre klinische Erfahrung vorweisen können.
Problematisch ist aber, dass trotz gegen 9000 auf der Plattform PsyReg registrierten und damit qualifizierten Psychotherapeutinnen und -therapeuten zu wenige ihre Leistungen in der Grundversicherung anbieten (konnten). Das Problem lag bisher also nicht bei den Fachkräften, sondern in einem massiven Mangel an von der Grundversicherung finanzierten Therapieplätzen einerseits und in der Abhängigkeit psychologischer Psychotherapeutinnen/-therapeuten zu Psychiaterinnen/Psychiatern: Bis anhin mussten psychologische Psychotherapeutinnen von einem Psychiater angestellt sein, damit ihre Leistungen von der Grundversicherung übernommen werden konnten (sog. delegierte Psychotherapie).
Da es aber zu wenige Psychiaterinnen gab (und gibt), die in ihrer Praxis psychologische Psychotherapeuten anstellen konnten, wurden im auslaufenden Delegationsmodell auch keine zusätzlichen Therapieplätze geschaffen.
Das Anordnungsmodell öffnet Türen
Im bisher geltenden Delegationsmodell musste – wie erwähnt – eine psychologische Psychotherapeutin bei einem Arzt angestellt sein, um einen von der Grundversicherung vergüteten Therapieplatz anbieten zu können. Seit dem 1. Juli ist das sogenannte Anordnungsmodell in Kraft: Neu können psychologische Psychotherapeutinnen selbständig über die Grundversicherung abrechnen, wenn die Anordnung eines qualifizierten Arztes oder Ärztin vorliegt.
Die Kompetenzen der psychologischen Psychotherapeuten werden entsprechend ihrer Qualifikation erhöht, so wird etwa für die Diagnose und das Berichtwesen kein Psychiater mehr benötigt. Erst bei einer Behandlungsdauer von mehr als 30 Sitzungen wird zusätzlich eine Beurteilung eines Facharztes für Psychiatrie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie nötig, um die Therapie fortsetzen zu können.
Die Chance des Anordnungsmodells besteht darin, dass, indem die Abhängigkeit psychologischer PsychotherapeutInnen von Psychiaterinnen (von denen es zu wenige gibt) beseitigt wird, der «Flaschenhals» in der Versorgung verschwindet. Nicht nur durch die Selbständigkeit, sondern auch im stationären Bereich können psychologische Psychotherapeutinnen die Psychiaterinnen entlasten, da sie mehr Kompetenzen erhalten (beispielsweise Diagnosen stellen). Schon heute übernehmen sie zusätzliche Aufgaben, sind aber in den Führungspositionen noch untervertreten.
Tarife und Tarifstruktur
Damit das Modell nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis funktionieren kann, braucht es einen angemessenen Tarif und eine detaillierte Tarifstruktur; Letztere bildet die Basis eines Tarifsystems. Nach Art. 43 Abs. 2 lit. a-c KVG kann ein Tarifvertrag auf den Zeitaufwand (Zeittarif) oder auf den Taxpunktwert (TPW, Einzelleistungstarif) abstellen oder pauschale Vergütungen (Pauschaltarif) vorsehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass einzig Einzelleistungstarife auf einer gesamtschweizerisch vereinbarten einheitlichen Tarifstruktur beruhen müssen, welche vom Bundesrat zu genehmigen wäre (Art. 43 Abs. 5 KVG).
Zurzeit sind Tarifverhandlungs- und Tariffestsetzungsverfahren im Gange. In den meisten Kantonen wird in diesem Zusammenhang provisorisch und rückwirkend per 1. Juli durch die Kantonsregierungen ein Zeittarif in Höhe von 2,58 Franken pro Minute festgesetzt; in einzelnen Kantonen werden Tarifverträge zwischen den Leistungserbringerverbänden und einem Teil der Krankenversicherer provisorisch genehmigt.
Vorliegend haben die Tarifpartner, wie hiervor bereits erwähnt, einen Zeittarif i.S.v. Art. 43 Abs. 2 lit. a KVG in Höhe von 2,58 Franken pro Minute vereinbart. Dieser Zeittarif basiert auf einer in den Genehmigungsverfahren eingereichten Abrechnungsgrundlage, welche die über die Grundversicherung abrechenbaren Leistungen, die Limitationen und die ausgeschlossenen Leistungskumulationen bezeichnet. Eine nationale Tarifstruktur ist bei einem Zeittarif nicht vorgesehen.
Zuständigkeit bezüglich Tariffestsetzung
Grundsätzlich versuchen Leistungserbringer und Krankenversicherer gesamtschweizerisch gültige Tarifverträge zu vereinbaren. Diese müssen nach Art. 46 Abs. 4 KVG vom Bundesrat genehmigt werden. Kann zwischen den Tarifpartnern keine Einigung erzielt werden oder finden keine Verhandlungen statt, muss der Bundesrat einen Tarif festlegen, was auf Antrag hin geschieht. Steht eine einheitlich nationale Lösung in Frage, weil keine Einigung erzielt werden oder weil der Bundesrat nicht schnell genug festsetzen kann, droht ein tarifloser Zustand. Dies kann verhindert werden, indem die Kantone betr. ihr jeweiliges Kantonsgebiet direkt nach Art. 46 Abs. 4 KVG um Festlegung oder Genehmigung von Tarifen ersucht werden.
Aktuell konnten sich die Leistungserbringerverbände nur mit einem Teil der Krankenversicherer im Sinne einer provisorischen Einführungslösung auf einen Tarifvertrag und eine Tarifstruktur einigen. Da jedoch eine nationale Lösung nicht rechtzeitig per 1. Juli realisierbar war, haben die Leistungserbringerverbände und die zustimmenden Krankenversicherer in allen Kantonen um kantonale Genehmigung nach Art. 46 Abs. 4 KVG ersucht. Aus diesem Grund haben sich die Tarifpartner auf einen Zeittarif i.S.v. Art. 43 Abs. 2 lit. a KVG geeinigt, um nicht auf eine nationale Tarifstruktur angewiesen zu sein. Die vereinbarte Höhe ist in allen Kantonen identisch, jedoch haben die Tarifpartner den Tarifvertrag in allen Kantonen separat zur Genehmigung eingereicht.
Gleichzeitig ersuchten die Krankenversicherungen, welche sich nicht mit den Leistungserbringerverbänden auf einen Tarif und eine Tarifstruktur einigen konnten, um Festsetzung eines Tarifes in den einzelnen Kantonen.
Die Zuständigkeit bezüglich kantonaler Genehmigung der Tarifverträge mit Zeittarif wird in den einzelnen Kantonen – trotz klarer Regelung im Gesetz – nicht einheitlich gesehen; nur wenige Kantone wenden das Recht von Amtes wegen an und erkennen, dass sie für die kantonale Genehmigung auf ihrem Hoheitsgebiet zuständig sind, und dass für die provisorisch beantragte Lösung, ein Zeittarif, keine nationale und vom Bundesrat zu genehmigende Tarifstruktur notwendig ist.
Schlusswort
Der Modellwechsel bietet eine grosse Chance, dem Fachkräftemangel in der Psychiatrie die Spitze zu nehmen und die Situation in der Betreuung psychisch kranker Menschen merklich zu verbessern; auch in Heimen und in Spitälern. Massgebend ist, dass eine nachhaltige Lösung angestrebt wird – dazu gehört nicht nur die grundsätzliche Möglichkeit, die neu verfügbaren Fachkräfte einzusetzen. Zusätzlich muss die Entlöhnung der Verantwortung und dem betriebswirtschaftlichen Risiko entsprechen.