Sie kamen im letzten Jahr von der Migros zum Swiss Medical Network. Dort waren Sie nicht nur Präsident der Generaldirektion (CEO) des Migros Genossenschaftsbundes, sondern Sie haben unter anderem auch über viele Jahre den Gesundheitsbereich aufgebaut. Hat Sie etwas in den ersten Monaten beim Swiss Medical Network überrascht?
Das Gesundheitswesen insbesondere im ambulanten Bereich war mir in der Tat nicht unbekannt. Und als ich hier startete, hatte ich schon den Eindruck, dass ich mich auch im stationären Bereich recht gut auskennen würde. Aber die Komplexität und die politische Einflussnahme haben eine Dimension, die ich unterschätzt habe. Das ist sehr spannend für mich und eine grosse Motivation, in diesem Bereich Verbesserungen für Patientinnen und Patienten und unsere Organisation voranzutreiben.
Mit dem Start der integrierten Versorgung im Jurabogen und dem neuen Versicherungsmodell VIVA sind Sie im Verwaltungsrat des Swiss Medical Networks für ein Pionierprojekt im Schweizer Gesundheitswesen verantwortlich. Wie sind die ersten Monate angelaufen?
Der Start des neuen Modells ist eine grosse Herausforderung für die gesamte Organisation. Dank des neuen Ansatzes für das Gesundheitswesen lernen wir sehr viel und denken, dass alle bei Swiss Medical Network davon profitieren können. Wir bekommen von allen Seiten ein sehr positives Feedback, viele Kundinnen und Kunden melden sich bei uns und begrüssen es sehr, dass gerade der Aspekt der gründlichen Vorsorge bei uns so eine grosse Rolle spielt. Das waren sie bisher nicht gewohnt und das frühzeitige Erkennen von Problemen wird sehr geschätzt.
Und wie ist das Feedback der Ärzte?
Auch die Ärzte zeigen sich insgesamt sehr interessiert, teilweise ihre Rolle neu definieren zu können als vorausschauender Berater und Betreuer und nicht nur als Helfer in der Not, wenn die Krankheit bereits ausgebrochen ist. Letztes Jahr gab es natürlich viele Fragen. Das System war neu, und in den Medien erschienen ein paar Dinge, die einfach nicht stimmen. Wir haben inzwischen sehr viele Fragen beantwortet und Aufklärung geleistet. Ausserdem haben wir eine Reihe von Hausärzten rekrutiert.
Also ist alles nur positiv?
Wir wussten von Anfang an, dass wir uns auf ein Abenteuer einlassen und die Bereitschaft haben müssen, eine lernende Organisation zu sein. Insofern gab es keine grossen Überraschungen.
Es gab teilweise starke Kritik an Ihrem neuen Modell. Hat Sie das geärgert?
Grundsätzlich ist es ja positiv, wenn sich eine Diskussion über ein neues Modell ergibt. Wenn es niemanden interessieren würde, gäbe es auch keine Diskussion. Ich hätte mir gewünscht, dass sich einige Kritiker zuerst einmal direkt an uns gewendet hätten, um zu verstehen, was wir eigentlich genau planen. Wir haben einen neuen Weg gewählt und bieten ein innovatives Modell, von dem wir absolut überzeugt sind. Die ersten Monate mit den positiven Feedbacks unserer Kundinnen und Kunden motivieren uns sehr, diesen Weg weiterzugehen.
Was sind aktuell die grössten Herausforderungen?
Integrierte Versorgung geht einher mit Digitalisierung. Die technologische Dimension ist sicherlich ein dickes Brett, das gebohrt werden muss, und viele Schnittstellen zwischen den verschiedenen IT-Systemen müssen noch automatisiert werden. Hier müssen wir heute noch einiges in Handarbeit erledigen. Das haben wir gewusst, aber es erzeugt dennoch an der ein oder anderen Stelle Frustrationen.
Was hat sich beim Réseau de l’Arc organisatorisch geändert?
Die Gesundheitsorganisation ist die gleiche und für alle Patientinnen und Patienten offen. Die Mitglieder des Versicherungsmodells VIVA profitieren jedoch von einer individuellen Koordination ihrer Gesundheitsbedürfnisse und einer aktiven Prävention. Neu ist die Funktion der Gesundheitskoordinatorinnen und -koordinatoren. Sie spielen in der integrierten Versorgung eine zentrale Rolle.
Wozu brauchen Sie die Gesundheitskoordinatoren, sollte der Hausarzt nicht diese Rolle übernehmen?
Die Gesundheitskoordinatoren sind die erste Anlaufstelle für alle Anliegen. Es sind in der Regel erfahrende Pflegefachleute, die sich auch um das Administrative kümmern, wie etwa Termine buchen und koordinieren. Aber ihre Arbeit geht noch viel weiter. Wenn beispielsweise eine Patientin einen Spitalaufenthalt bei uns braucht oder in einem Spital ausserhalb unserer Organisation operiert werden muss, dann organisiert dieser Koordinator den Prozess und sorgt auch dafür, dass der Hausarzt nach der Operation genau weiss, was geschehen ist. Integrierte Versorgung ist nicht nur ein Schlagwort, das muss täglich mit Leben gefüllt werden.
Werden die Hausärzte in ihrer neuen Rolle nicht mit zusätzlichen Aufgaben überfordert?
Eben dafür haben wir ja die Gesundheitskoordinatorinnen und -koordinatoren eingestellt, damit genau das nicht passiert. Die Rückmeldungen nach den ersten Monaten sind sehr positiv, auch wenn es natürlich immer Dinge gibt, die verbessert werden können.
Was wurde konkret positiv aufgenommen?
Wir haben verschiedene Qualitätsmeetings, zu denen wir einladen, um den Ärztinnen und Ärzten ihre neue Rolle nahezubringen. Viele Ärzte haben inzwischen verstanden, dass diese zwar anfänglich einen höheren Aufwand erfordert, aber gleichzeitig auch eine grosse Chance ist, in der Versorgung eine noch bedeutendere Rolle einzunehmen.
Viele Patienten wollen ihren Arzt aber nicht wechseln?
Ja, das stimmt. Weil der Hausarzt so eine herausragende Rolle spielt, laden wir auch externe Ärzte ein, am System teilzunehmen. Im Prinzip wird er bei uns akkreditiert, aber er ist nicht gezwungen, exklusiv mit uns zu arbeiten. Was die Spezialisten angeht, so wählen wir für die Mitglieder die beste Behandlung. Wir können ungefähr 80 Prozent aller möglichen Behandlungen abdecken, und für die restlichen 20 Prozent kooperieren wir mit externen Partnern wie den Unispitälern beispielsweise. Wir wollen diese Partnerfähigkeit weiter ausbauen und das brauchen wir natürlich auch in weiteren Regionen.
Wie werden die unabhängigen Ärzte an das integrierte System herangeführt?
Wichtig für uns ist, das Verständnis für das neue Modell und die Motivation, sich uns anzuschliessen, zu fördern. Wir wollen die Hausärzte einbeziehen und laden sie unter anderem zu den oben erwähnten Qualitätsgesprächen ein. Für den Zeitaufwand erhalten sie von uns eine Entschädigung.
Welche Zahlen können Sie zum neuen Modell teilen?
Fast 90 Prozent unserer Mitglieder leben im Berner Jura, das heisst, sie sind weniger als fünf Kilometer entfernt von unseren Leistungserbringern. Die Region hat ja ein Marktpotenzial von ungefähr 50 000 Kundinnen und Kunden. 80 Prozent der VIVA-Mitglieder kannten uns bereits, 20 Prozent waren bisher noch nie in Behandlung und haben sich für unser Modell interessiert. Wir haben 27 Hausärzte inklusive Kinderärzte in unserem Angebot, insgesamt sind es rund 150 Ärzte in der gesamten Organisation. Zur Organisation gehören Spitäler und medizinische Zentren sowie spezialisierte Einheiten.
Über wie viele Versicherte von VIVA sprechen wir?
Wie es bereits in anderen Interviews gesagt wurde, sind es rund 1500 in diesem Jahr. Wenn man weiss, dass etwa 20 bis maximal 25 Prozent pro Jahr zu einer neuen Versicherung wechseln, dann bedeutet es, dass sich über 10 Prozent der Wechselwilligen im Berner Jura für unser neues Modell entschieden haben. Das ist eine relativ hohe Zahl aus unserer Sicht, zumal wir nicht besonders viel ins Marketing investiert haben.
Können Sie weitere Beispiele nennen, die einen positiven Effekt für das Gesundheitssystem haben?
Die Situation, die wir überall kennen, ist die Überlastung der Notfallstationen. Wenn jemand am Wochenende krank wird, geht er oder sie häufig direkt in ein Notfallzentrum. In unserem System erfolgt zunächst ein Anruf an die Gesundheitskoordinatoren, die dann direkt einen passenden Arzt organisieren können. Es gibt ja auch Fälle, dass jemand nur ein neues Rezept braucht und deswegen bisher in den Notfall gegangen ist. So etwas können wir direkt online erledigen. Die Menschen bedanken sich spontan dafür bei uns, denn sie vermeiden die teilweise langen Wartezeiten in den Notfallstationen. Das hilft auch dem bestehenden System, denn unsere Notfallstationen werden entlastet. Die ganze Organisation lernt daraus und profitiert.
Was für ein IT-System nutzen Sie?
Das ist wie schon vorhin gesagt ein ganz zentraler Punkt unseres Konzepts. Wir wurden häufig gefragt, ob wir wirklich all diese Informationen brauchen. Wir haben dafür eine eigene App, die wir in enger Zusammenarbeit mit Benecura entwickelt haben und noch weiter entwickeln werden. Daher bitten wir auch die Kunden, das Dossier ihres Hausarztes an uns zu senden, wenn es ein Arzt ausserhalb des Réseau ist, damit wir alle Daten in einer Hand haben. Dieser Datenfluss ermöglicht zum Beispiel, dass wir nicht zweimal die gleichen Laboruntersuchungen verordnen.
Und wie reagieren diese Hausärzte?
Die meisten verstehen, dass es nicht ihr Dossier ist, sondern das Dossier der Patientin oder des Patienten. Aber es gibt leider auch Ausnahmen. Nur dank der Datentransparenz und Datenqualität sind wir in der Lage, die einzelnen Silos zu verlassen und einen Gesamtblick zu erhalten. Daraus resultieren die Qualitätsverbesserungen und die Effizienzsteigerungen.
Welche wesentlichen Ziele verfolgen Sie für die nahe Zukunft?
Wir verfolgen zwei Ziele: Im Prozess lernen, damit alle profitieren. Zum anderen wollen wir mehr Menschen von unserem System überzeugen, und dafür brauchen wir mehr Hausärzte. Zudem möchten wir mittelfristig in allen Regionen, in denen das Swiss Medical Network tätig ist, das Modell der integrierten Versorgung anbieten.
Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit Sie in weitere Regionen vorstossen?
Dazu müssen wir unsere digitalen und medizinischen Prozesse optimieren. Schliesslich wollen wir nicht jedes Mal das Rad neu erfinden. Und natürlich möchten wir auch eine Reihe von Partnerschaften abschliessen, da wir nicht alles allein machen können.
Wie schnell werden neue Regionen hinzukommen?
Wir führen Gespräche mit möglichen Partnern in der ganzen Schweiz und erfahren sehr grosses Interesse. Nicht von allen Seiten, aber unser Ziel ist es, mit den Willigen zusammenzuarbeiten. Ich gehe davon aus, dass spätestens in zwei Jahren weitere Regionen hinzukommen.
Sie haben in Ihrer früheren Tätigkeit für die Migros unter anderem den Gesundheitsbereich aufgebaut. Bieten sich da nicht Kooperationen beispielsweise zwischen dem Swiss Medical Network und Medbase an?
Kooperationen und Partnerschaften werden grundsätzlich eine grosse Rolle spielen. Es geht dabei nicht nur um Medbase. Wir sind sehr froh, dass wir einen ersten Schritt mit der integrierten Versorgung im Jura-Bogen gemacht haben. Gleichzeitig bin ich auch stolz darauf, was Medbase in den letzten Jahren erreicht hat mit einem ähnlichen Ziel, nämlich eine Brücke zwischen den einzelnen Leistungserbringern zu bauen. In diesem Sinne gibt es in der Schweiz Platz für die Willigen. Für diejenigen, die bereit sind, diesen Anfangsaufwand für ein neues Modell in Kauf zu nehmen.
Lohnt sich das Modell der integrierten Versorgung finanziell für das Swiss Medical Network?
Im Moment ist es eine Investition – aber eine Investition für die Zukunft, die nicht nur unserer Organisation, sondern dem gesamten Schweizer Gesundheitswesen nutzt.
Gibt es für die Jura-Region ein konkretes Ziel?
Das Ziel ist, 5000 VIVA-Mitglieder zu gewinnen. Es sieht so aus, als ob wir dieses Ziel schon schneller erreichen können als ursprünglich geplant.
Rückblickend ist man immer schlauer. Wenn Sie das Modell noch einmal starten würden, was würden Sie anders machen?
Was wir uns vielleicht gewünscht hätten, wäre etwas mehr Zeit für den Start. Aber die hätte man in der Regel gerne für jedes Projekt. Es war gut, dass wir schnell gestartet sind, das mobilisiert alle Kräfte und bringt uns zügig voran. Was wir ein wenig unterschätzt haben, ist das Informationsbedürfnis der potenziellen Mitglieder und des medizinischen Personals. Da es sich um einen neuen Ansatz handelt, braucht es mehr Aufklärung, mehr Informationen. Hier sind wir vielleicht auch ein wenig ein Opfer des Erfolgs des Modells, weil sich sehr viele Menschen dafür interessieren. Dass wir es trotzdem in dieser kurzen Zeit geschafft haben, macht mich sehr stolz.