Mir machen Anzahl und Qualität der im Bundeshaus eingereichten gesundheitspolitischen Vorstösse mehr Sorgen als die steigenden Kosten und Krankenkassenprämien. Die Vorstösse haben sich nämlich ohne entsprechenden Gegenwert hinsichtlich Effektivität, Effizienz und Qualität der medizinischen Versorgung in den letzten zwanzig Jahren vervierfacht. Und im gleichen Zeitraum haben sich die Paragraphen im Krankenversicherungsgesetz (KVG) verdoppelt.
Wie schon unter Ruth Dreifuss und Pascal Couchepin gibt es auch unter Gesundheitsminister Alain Berset nach vier Jahren Ruhe an der Prämienfront in diesem Herbst für die Versicherten einen Prämienschock. Wie Dreifuss und Couchepin hat auch Berset die Krankenversicherer zum Abbau der Reserven gezwungen. Nun müssen die Krankenversicherer die Kostensteigerungen der letzten Jahre nachholen. Wie in der Ära Couchepin könnten auch geringere Erträge auf den Kapitalmärkten die Prämienerhöhungen stimulieren. Dass sich die Krankenversicherer nicht im Interesse der Versicherten vehement gegen den Reservenabbau gewehrt haben, ist unverständlich. Der Prämienschock wird die Regulierungswut in Bundesbern befeuern. Es ist zu hoffen, dass sich das Parlament erfolgreicher gegen Bundesrat Bersets Kostenziele wehrt, als in der Vergangenheit gegen die Zulassungssteuerung und die Qualitätsvorlage.
Die Entwicklung der Finanzierung passt zur zunehmenden Regulierungsdichte. Als das KVG 1996 in Kraft trat, wurden etwas über 40 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben privat finanziert. Heute sind es noch um die 30 Prozent. Einen entsprechenden politischen Entscheid hat weder das Parlament noch das Volk gefällt. Die einheitliche Finanzierung stationärer und ambulanter Leistungen (EFAS) gemäss KVG würde wenigstens dazu führen, dass sich die Kantone in diesem Bereich der Gesundheitsausgaben nicht immer weniger beteiligen, kommt aber im Parlament nur schleppend voran, weil die Kantone bremsen. Immerhin hat das Bundesgericht mit seinem Urteil gegen die rückwirkenden Kürzungen der Prämienverbilligungen den Kantonen auch ohne die 10-Prozent-Initiative der SP klargemacht, dass sie die Prämienverbilligungen nicht beliebig kürzen dürfen. Dass die Koppelung der Kosten und Krankenkassenprämien an die Lohnentwicklung in der Bundesverfassung an der Urne keine Chance hat, weiss auch die Mitte und will deshalb auf Gesetzesstufe irgend eine Kostensteuerung, damit sie ihre Initiative ohne Gesichtsverlust zurückziehen kann und nicht ein zweites Heiratsstrafedebakel erlebt. Weil Politik selten wirklich rational funktioniert, freuen sich Bundesrat Berset, SP, Grüne und Mitte über den Prämienschock in diesem Herbst.
Wieder starker steigende Krankenkassenprämien ebnen den Weg für untaugliche Kostenbremsen und Kostenziele. Der indirekte Gegenvorschlag des Bundesrats zur Kostenbremse-Initiative der Mitte umfasst fünf A4-Seiten Gesetzestext, obwohl die Grundidee der Kostenziele in der Vernehmlassung massiv kritisiert worden ist. Wenn das Parlament hier nicht die Reissleine zieht, werden auf Verordnungsstufe noch einmal fünf A4-Seiten Paragraphen folgen und das medizinische Fachpersonal noch mehr mit Bürokratie statt mit den Patient:innen beschäftigen.
Bundesrat Bersets Sparpakete wären gar nicht nötig, wenn er seine immer zahlreicheren Fachleute im Bundesamt für Gesundheit (BAG) beauftragen würde, endlich das KVG umzusetzen, denn dieses verlangt seit 1996, dass die Krankenversicherer nur wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Medizin zulasten der Grundversicherung vergüten dürfen. Wie das geht, hat Elizabeth Olmstead Teisberg schon vor 15 Jahren formuliert:
- Die Transparenz im Gesundheitswesen muss erhöht werden. Über die Kosten wissen wir viel besser Bescheid als über die Qualität der versicherten medizinischen Leistungen. Qualitätstransparenz ist aber eine wichtige Voraussetzung für einen funktionierenden Leistungswettbewerb.
- Der Wettbewerb muss kosteneffektive Ergebnisse belohnen. Das ist mit den alternativen Versicherungsmodellen (AVM) schon möglich. Damit die AVM ihre Wirkung über das Gatekeeping hinaus auf den ganzen Behandlungspfaden entfalten kann, muss der Handlungsspielraum der Vertragspartner beim Leistungskatalog, bei den Tarifen und Preisen, bei den Prämien und bei der Dauer der Versicherungsverträge erweitert werden. Über 70 Prozent der Versicherten haben schon ein AVM. Tendenz weiter zunehmend.
- Die Digitalisierung spielt bei Qualitätsverbesserungen und Kosteffektivität eine wichtige Rolle. Auch aus liberaler Sicht muss der Staat wie bei den analogen Verkehrsnetzen auch beim digitalen Datenverkehr die Basisinfrastruktur zur Verfügung stellen und Spielregeln für nutzenstiftende Geschäftsmodelle durchsetzen.
Wir brauchen also nicht noch mehr staatliche Inputsteuerung und Planwirtschaft. Stärken wir den seit 1996 im KVG verankerten regulierten Wettbewerb. Dieser ist zwar anstrengender als Planwirtschaft, aber besser für eine gute und finanzierbare medizinische Versorgung.