Bundesrat Berset hat in letzter Zeit immer öfter von Blockaden gesprochen und die Schuld stets den Akteuren in die Schuhe geschoben, die angeblich bloss ihre Partikularinteressen vertreten und Reformen verweigern. Die meisten Journalistinnen und Journalisten bekräftigten dieses schlicht falsche Narrativ. Hätte er sein Kommunikationstalent etwas mehr für ergebnisoffene Diskussionen eingesetzt, wäre er in der Sozial- und Gesundheitspolitik erfolgreicher gewesen. Ich nehme die Präsentation von BAG-Vizedirektor Thomas Christen vom 11. Januar 2023 am Swiss HealthCare Day des Bündnisses Freiheitliches Gesundheitswesen (BFG) als Basis für meine kritische Würdigung der bald zwölfjährigen Tätigkeit des Gesundheitsministers Alain Berset.
Fünf zentrale Reformen
Bessere Bekämpfung von Epidemien: Die Schweiz hat die COVID19-Pandemie relativ gut überstanden, weil ihre Ausgangslage vor der Pandemie besser war als diejenige vergleichbarer Länder und nur zum Teil weil das Krisenmanagement besser war. Insbesondere hat sich die medizinische Versorgung trotz staatlicher Eingriffe als sehr resilient erwiesen.
Stärkung der Hausarztmedizin: Die diplomfixierte Regulierung muss überwunden werden, damit integrierte Versorgung ihre Wirkung noch besser entfaltet und Effizienz bzw. Qualität anstatt bloss Mengen belohnt.
Stärkung der Aufsicht: Ausser Spesen nichts gewesen. Wie die Finma konzentriert sich auch das BAG nicht auf das Wesentliche und die Versicherer spielen mit (siehe Vermittlerregulierung).
Verbesserung der Qualität der Leistungen: Ausser Spesen nichts gewesen. Wir brauchen Qualitätswettbewerb und nicht immer mehr Qualitätsbürokratie.
Verbesserung bei der Versorgung: Erste Korrektur ein Jahr nach Inkraftsetzung der Ärztezulassungssteuerung zeigen, dass unser Gesundheitswesen mit noch mehr staatlicher Steuerung weder günstiger noch besser wird.
In Thomas Christens Aufzählung fehlen positive Reformen der letzten 12 Jahre wie die Spitalfinanzierung, der verbesserte Risikoausgleich, die Psychotherapie auf ärztliche Anordnung oder die ambulanten Listen fehlen.
Aktuelle Baustellen
Mangel an Pflegefachkräften: Handlungsbedarf in der Ausbildung (Staat) und in der Verweildauer im Beruf (Arbeitgeber) besteht. Das Risiko falscher Regulierung mit noch mehr unnötiger Bürokratie ist aber gross.
Rückstand bei der Digitalisierung: Wir müssen von Ländern wie Dänemark lernen. Das bedeutet nicht, dass wir alles übernehmen sollten, sondern das, was zu uns passt und uns weiterbringt.
Steigende Kosten, steigende Prämien: Die Gefahr ist gross, dass die beiden Sparpakete und der indirekte Gegenvorschlag zur Mitte-Initiative „Kostenbremse“ kontraproduktiv wirken. Vor ein paar Jahren war die Schweiz bei den Gesundheitsausgaben gemessen am BIP hinter den USA weltweit an zweiter Stelle. Nun sind wir von Kanada, Deutschland, Frankreich und Grossbritannien überholt worden und liegen mit 11,8% an sechster Stelle. Erstens, weil diese Länder zu viel gespart und die medizinische Versorgung verschlechtert haben, und zweitens, weil ihre Gesamtwirtschaft weniger gewachsen ist als unsere. Weitere Reformen mit dem Kostenröhrenblick sind kontraproduktiv.
Veraltete Tarife und Fehlanreize: Die mengenfixierte Regulierung muss überwunden werden, damit integrierte medizinische Versorgung ihre Wirkung noch besser entfaltet und endlich Prävention, Effizienz sowie Qualität anstatt bloss Mengen belohnt werden.
Verbesserungsbedarf bei der Versorgung: Mit einem zusätzlichen Leistungserbringer – ein zusätzliches Silo, das die Zusammenarbeit der anderen Silos koordinieren soll – ereugt die integrierte bzw. koordinierte Versorgung nicht mehr Wirkung, kostet aber mehr.
Nicht erwähnt hat Thomas Christen, dass weder die 10%-Initiative der SP noch der indirekte Gegenvorschlag nötig wäre, wenn die Kantone das Instrument der individuellen Prämienverbilligungen einsetzen würden.
Zentrale Reformen der kommenden Jahre
Einheitliche Finanzierung aller Leistungen (EFAS): Diese wichtige Reform hat die ehemalige Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel 2009 lanciert und nicht der Bundesrat. Ob die durch den Druck der Kantone überladene Vorlage (doppelte Rechnungskontrolle und Integration der Pflege) im Parlament abstürzt oder ob es ein Referendum gibt, das gegen die Linke und Kantone zu gewinnen wäre, ist völlig offen.
Umsetzung der Pflegeinitiative: Auch das ist keine vom Bundesrat, sondern von den Pflegefachleuten initiierte Vorlage, weil ihre Arbeitgeber zu lange zu träge waren. Und es droht wie fast immer, wenn zu lange gewartet und dann überreagiert wird, eine Überregulierung, die mehr schadet als nützt.
Kostendämpfung und Prämienentlastung: Fachkräftemangel, Versorgungsengpässe und Inflation sind grosse Herausforderungen und eine Gefahr für noch mehr falsche Regulierung (Gegenvorschlag Kostenbremse und Kostendämpfungspaket 2) mit dem Kostenröhrenblick. Realistisch sind folgende Ziele: Erstens sollten wir die Tendenz des abnehmenden Kostenwachstums halten können. Nach dem KVG-Start 1996 waren wir bei 4,5% jährlich, in den letzten fünf Jahren waren es knapp 2,5% pro versicherte Person. Zweitens sollte die Politik endlich aufhören, die Krankenversicherer zum Reserveabbau zu zwingen, denn in der Vergangenheit hat jeder politisch erzwungene Reserveabbau früher oder später zu einem oder mehreren Prämienschocks geführt (siehe Abbildung in der Fotogalerie).
Neuordnung Tarife: Ohne Verknüpfung von Menge und Qualität bleibt die Tarifpartnerschaft eine schwierige Beziehungsgeschichte. Denn so lange an Tarifstrukturen und Tarifen nur mit dem Kostenröhrenblick gearbeitet wird, hat niemand mit mehr Effizienz und besserer Qualität einen Wettbewerbsvorteil. Der Ärztetarif Tardoc ist nicht perfekt, aber besser als der Tarmed und erfüllt die KVG-Anforderung eines sachgereichten Tarifssystems. Es gibt also keinen Grund, die Genehmigung durch den Bundesrat weiter hinauszuzögern.
EPDG und Finanzierungsbotschaft Digitalisierung (DigiSanté): Bundesrat und Parlament haben nicht den Mut, das EPDG zu begraben, die Investitionen abzuschreiben und beim Neustart von Dänemark zu lernen. Mit dem ambitiösen Projekt DigiSanté wollen die Bundesämter für Gesundheit und Statistik das digitale Datenmanagement verbessern. Das Ziel ist unbestritten: Weniger Daten sammeln, aber gezielter und verbindlicher.
Fazit: Bundesrat Berset hat als Kommunikationstalent in der Öffentlichkeit brilliert und das auch sichtlich genossen. Wäre sein Umgang mit den Akteuren des Gesundheitswesens hinter den Kulissen auch so einnehmend und souverän bzw. weniger ideologisch und etatistisch gewesen, hätte er viel mehr erreicht, was ich als Freiburger ihm von Herzen gegönnt hätte.
Felix Schneuwly ist Gesundheitsexperte bei comparis.ch