In den Niederlanden werden die Heime geöffnet: Auch schwer Demente werden kaum mehr eingeschlossen. Bis zum 1. Januar 2020 gilt in den Niederlanden noch das Gesetz «Wet bijzondere opne-mingen psychiatrische ziekenhuizen» (Gesetz für besondere Aufnahmen in psy-chiatrische Kliniken). Dieses Gesetz regelt die Rechte von Personen bei unfreiwilliger Aufnahme in eine psychiatrische Einrichtung, eine Einrichtung für geistig Behinderte oder ein Pflegeheim für demenzkranke ältere Menschen. Ab dem 1. Januar 2020 gibt es ein neues Gesetz «Wet zorg en dwang». Mit diesem neuen Gesetz sollen die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz noch besser berücksichtigt werden. Zentraler Punkt des Gesetzes ist, die Freiheit des Menschen zu gewährleisten. Freiheitsbeschränkende Massnahmen dürfen nur getroffen werden, wenn es nicht anders geht. Wie sich die Umsetzung realisieren lässt, wird sich noch zeigen. Der Eingang des Demenzheims Klinkenberg in Arnhem, Niederlande. Offen zugänglich, kein Zaun, keine Schleuse, keine Codes. Auch die einzelnen Wohnbereiche sind frei zugänglich.
Das Vorzeigedorf De Hogeweyk
Eloy van Hal, Gründer des weltberühmten Demenzdorfs De Hogeweyk, begrüsst die Diskussion um das neue «Gesetz der offenen Türen». Dabei gilt sein Demenzdorf schon heute als vorbildlich. Tausende Interessierte aus der ganzen Welt haben es bereits besucht, und es ist Grundlage jeder Reise der Blezinger Healthcare Academy. In De Hogeweyk gibt es keine Zäune. Durch die sehr geschickte Bauweise ist es dennoch ein geschlossenes Dorf. Eloy van Hal freut sich auf die Änderung des Gesetzes in den Niederlanden, das ihm erlauben würde, die noch bestehende Schleuse am Eingang zu öffnen. Obwohl er sicher ist, dass alle Bewohner von De Hogeweyk mit offenen Türen umgehen könnten, weiss er auch, dass dies für einige Bewohner nicht die richtige Lösung wäre. Für diejenigen, die sich in einer vertrauten Umgebung wohlfühlen und denen ein Aufenthalt jenseits der Schleuse Angst machen würde, ist eine offene Tür eher schwierig. Dennoch: Eine Diskussion darüber, was Freiheit und Sicherheit generell bedeuten, ist ihm wichtig.
De Nieuwe Klinkenberg
Der Architekt Jarno Nillesen von Wiegerinck Architecten nennt sein Konzept «Die Architektur der Freiheit». Er entwarf 2018 einen Gebäudekomplex, der aus mehreren miteinander verbundenen Gebäuden mit einem Innenhof und parkähnlichem Garten besteht. Dieser ist nach aussen vollkommen offen und wird auch von der Nachbarschaft genutzt, sodass es einen regen – und gewünschten – Austausch der dementen Bewohner mit den Menschen aus der Umgebung gibt. Es gibt im De Nieuwe Klinkenberg in Ede keine verschlossenen Türen. «Das ist nicht nötig», erklärt Patricia Vermeulen, Managerin des Hauses. Die Anordnung der Wohngruppen und die Gruppierung der vier Gebäude um einen gemeinschaftlichen Innenhof geben ein Gefühl der Ge-borgenheit. Die Bewohner fühlen sich wohl und haben deswegen nicht das Bedürfnis, wegzulaufen. Zudem werden Bewohner mit Weglauftendenz mit einem Konzept wie dem sogenannten «Potsdamer Tisch», einem Modell aus Deutschland, sanft dazu animiert, im Haus zu bleiben. Von den 70 demenziell Erkrankten tragen circa zehn Prozent einen Chip bei sich und können dadurch per GPS überwacht werden. Manche Bewohner gehen in der Nachbarschaft spazieren oder besuchen selbstständig ein Café in der Innenstadt. Sie bekommen dort einen Kaffee und gehen wieder nach Hause. Die Nachbarschaft ist informiert, manchmal kommt ein Anruf, dass ein Bewohner «gefunden» wurde. Hier zeigt sich, dass die Bevölkerung sich immer besser an den Umgang mit dementen Menschen gewöhnt. Vilente, die Betreiber-Organisation von Klinkenberg, hat seit inzwischen über fünf Jahren Erfahrung mit diesem System. In dieser Zeit gab es nur zwei Bewohner, für die die offene Umgebung nicht geeignet war und die woanders untergebracht werden mussten. Für die Allermeisten jedoch bietet das offene Gebäude Freiheit und Schutz zugleich und ermöglicht den Bewohnern somit einen guten Umgang mit der gebotenen Freiheit. Ron Hendricks, Gesundheitsmanagement-Experte, sieht die Schwierigkeit eher darin, die dementen Menschen überhaupt zu mehr Aktivität zu motivieren. Insgesamt sieht er die Öffnung der Einrichtungen ambivalent: Sehr gut in kleinen Gemeinden wie Ede, problematisch in Grossstädten.
Wie sind die Möglichkeiten für die Schweiz?
Michael Schmieder, bekannt durch das Schweizer Vorzeigehaus «Sonnweid» in Wetzikon und sein Buch «Dement, aber nicht bescheuert», sieht das ähnlich. Er plädiert dafür, den Bewohnerinnen und Bewohnern lieber das «Innen» so attraktiv zu machen, dass sie dies schon als «Aussen» empfinden. Demente haben oft gar kein Bewusstsein darüber, wo sie sich tatsächlich befinden. Werner Walti von der Stiftung Alp-bach in Meiringen würde eine Schulung der Bevölkerung – wie es in den Niederlanden geplant ist – auch in der Schweiz begrüssen. Das Verständnis für das «seltsame» soziale Verhalten von Menschen mit Demenz ist noch nicht ausreichend vorhanden. Die Akzeptanz von Dementen – und anderen Menschen mit Behin-derung – in der Gesellschaft zu steigern, ist in jedem Fall ein guter Schritt.
Dr. Sylvia Blezinger ist Gründerin und Geschäftsführerin von Blezinger Healthcare, einem Dienstleistungsunternehmen für Fortbildung und Personalberatung. Sie ist seit über 20 Jahren im Gesundheitswesen tätig. Seit 2001 beschäftigt sie sich intensiv mit Planung, Bau und Organisation von Spitälern und Pflegeheimen.