Der Kongress wurde bewusst als Experiment angelegt. Erstmals luden Curaviva, Insos und Youvita gemeinsam zu einem Branchentreffen ein, unter dem Motto «Erfolgsrezepte teilen und voneinander lernen».
Obwohl die drei Bereiche Alter, Behinderungund Kinder & Jugendliche mit unterschiedlichen Anforderungen und Spezifika arbeiten, besteht die Idee darin, dass alle drei vor vergleichbaren Herausforderungen stehen: Fachkräftemangel, Digitalisierung, Qualitätsanforderungen, Ressourcenknappheit und gesellschaftliche Erwartungen, um nur einige zu nennen. Der Kongress wollte zeigen, dass man nicht isoliert agieren sollte, sondern voneinander profitieren kann, mit gemeinsamen Zutaten, geteilten Werkzeugen und variierenden Rezepturen.
Die Programmpunkte waren entsprechendangelegt. Keynotes zu übergeordneten Themen wie Fehlerkultur, kollektiver Intelligenz oder Netzwerktheorie lebten von Schnittstellen. Parallel dazu bot die «Tour d’Idées» mehr als dreissig Praxisbeispiele
aus den Mitgliedsorganisationen,bei denen Institutionen aus dem Altersbereich Konzepte mit Organisationen der Behindertenhilfe oder Kinderbetreuung teilten und diskutierten.
Politisch war der Kongress prominent besetzt. Personen aus nationaler Politik, namentlich Andri Silberschmidt (FDP), Benjamin Roduit (Die Mitte), Sarah Wyss (SP), Maya Graf (Grüne) und Esther Friedli (SVP), tauschten sich öffentlich mit Praxisvertreterinnen und -vertretern aus der Branche aus. Diese Einladung zur politischen Debatte war kein Lippenbekenntnis, sondern Teil des Anspruchs von Artiset, zwischen Anspruch und Realpolitik vermitteln zu wollen. So entstand in Bern eine temporäre Archipel-Plattform, in der Artiset sich als Mittlerin aufstellen konnte. Nicht als übergeordnete Instanz, sondern wie eine Infrastruktur für Austausch, Weiterentwicklung und als eine bündelnde Stimme.
Ein erster Schritt: Die Resolution gegen den Fachkräftemangel
Im Vorfeld des Kongresses, und symbolisch sendungsbewusst, war in der Delegiertenversammlung eine Resolution zur Eindämmung des Fachkräftemangels verabschiedet worden. Diese Resolution war mehr als ein Stück Programmatik, sie war ein sichtbares Statement: Artiset will nicht nur moderieren, sondern strategisch mitgestalten. Die Resolution fordert unter anderem:
- einen nationalen Masterplan zur Sicherstellung der Versorgung im Sozial- und Gesundheitsbereich, in enger Kooperation zwischen Bund, Kantonen, Sozialpartnern und Bildungsinstitutionen
- wettbewerbsfähige Löhne und wirtschaftliche Tragfähigkeit der Institutionen, damit Fachkräfte gewonnen und gehalten werden können
- verstärkte Kooperation zwischen relevanten Akteuren und verbindliche Zielsetzungen
- die Ausfinanzierung der Ausbildungsplätze, begleitete Wiedereinstiegsmodelle, die Mobilität von ausländischen Abschlüssen und pragmatische Regelanpassungen, beispielsweise bei Stellenschlüsseln und administrativen Hürden
- Transparenz über den Personalbedarf, insbesondere bei Änderungen von Versorgungs- oder Angebotskonzepten
Dass diese Resolution breit unterstützt wird, zeigt sich in lokalen Reaktionen. So befürwortet etwa Insos Thurgau die Forderungen usdrücklich und ruft Kanton und Branche auf, aktiv mitzuwirken.
Bemerkenswert ist die Signalwirkung dieser Initiative. Es ist eine der ersten branchenübergreifenden Aktivitäten, die von den drei grossen Verbänden gemeinsam getragen wird. Damit setzt Artiset ein Signal, das für die kommenden Jahre Orientierung geben könnte.
Kongresstage mit zahlreichen Highlights
Die beiden Kongresstage in Bern waren gespickt mit Reflexionen, Provokationen und konstruktiven Impulsen. Einige Höhepunkte:
- in der Keynote «Fehlerkultur als Chance» wurde gefordert, das Scheitern nicht zu verteufeln, sondern als Rohstoff für Innovation zu begreifen, gerade in Organisationen mit begrenzten Ressourcen
- die Auseinandersetzung zur «Kraft des Wir» zeigte psychologische Mechanismen, die Netzwerke und gemeinsame Identitäten stützen
- im politischen Panel standen Finanzierung, Zuständigkeit und Priorisierung im Fokus, etwa, wer die Kosten für zusätzliche Fachkräfte trage und wie man zwischen kantonalem Handlungsspielraum und nationaler Strategie balanciert
Aus der «Tour d’Idées» kamen konkrete Impulse. Einige Institutionen präsentierten digital gestützte Assistenzsysteme für Mitarbeitende, andere zeigten Modelle der Sozialraumorientierung oder Vernetzung zwischen Angeboten im Quartier. Diese kleinen «Rezeptvariationen» verdeutlichten, es gibt keine Patentlösung, aber viele Anknüpfungspunkte zum Lernen. Für viele Teilnehmende war der Nutzen evident. Der Austausch mit fachfremden, aber benachbarten Bereichen erzeugte neue Einsichten. Eine Heimleitung, die im Bereich Altersbetreuung tätig ist, berichtete, sie habe in einer Diskussion mit einer Jugendeinrichtung neue Ansätze zur Mitarbeiterbindung mitgenommen und werde diese adaptieren. Am Abend des ersten Tages war klar, der Kongress hat eine Aura entwickelt, die über die reine Tagung hinausgeht. Die Stimmung war ambitioniert und mit pragmatischem Fokus. Es stand immer die Frage im Mittelpunkt, wie man konkret etwas in der eigenen Organisation bewegen könne.
Zwischen Rolle und Anspruch
Der Kongress machte nicht nur sichtbar, was Artiset in Zukunft sein könnte, sondern auch, wo sich Spannungen zeigen. Einige Punkte sind beachtenswert:
- Die Rolle als Dachorganisation versus die Funktion als aktiver Impulsgeber. Artiset tritt zunehmend nicht mehr nur als Repräsentationsplattform auf, sondern als Prozessgestalterin. Das bedeutet, Erwartungen werden grösser, die Last, Ergebnisse zu liefern, ebenso.
- Es gibt Grenzen der Kooperation. Obwohl Unterschiede in Ressourcen, Ausrichtung und politischem Umfeld bestehen, muss Artiset Wege finden, heterogene Interessen zu integrieren, ohne dass die Anliegen einzelner verloren gehen.
- Verbindlichkeit versus Flexibilität. Die Resolution fordert verbindliche Ziele, die Umsetzung will gleichzeitig Raum für differenzierte Lösungen lassen. Dieses Spannungsfeld bleibt eine Herausforderung.
- Signalwirkung versus Umsetzungsdruck. Eine solche Resolution weckt Erwartungen bei Politik, Medien und Mitgliedern. Wenn Artiset nicht bald konkret mit Projekten und Initiativen nachlegt, droht das Risiko, als blosser Symbolträger wahrgenommen zu werden.
Insgesamt kann man aber feststellen: Der Kongress ist ein vielversprechender Auftakt für ein neues Kapitel für die drei Verbände.
