Zu beobachten ist, dass es zunehmend eine Teilung der Aktivitäten gibt zwischen etablierten, meist grossen Healthcare-Organisationen, und jungen aufstrebenden Unternehmen. Die einen sind eher an der Bewahrung des Status quo interessiert, während die anderen versuchen, von den disruptiven Veränderungen in der Branche zu profitieren. Denn die etablierten Unternehmen weisen durch ihre Grösse eine hohe Komplexität auf, was sich als Innovationshemmnis wie auch als Effizienzbremse auswirkt. Dennoch: Sie meistern ihre Trägheit und Komplexität gut; noch bekommen die allermeisten Patienten eine qualitativ hochstehende medizinische Versorgung.
Prozesse effizient gestalten
Um dem Bedürfnis nach effizienten Prozessen zu begegnen, arbeiten viele grosse Healthcare-Unternehmen zurzeit an Themen wie Lean Management, Kaizen oder Six-Sigma – alles Organisationsphilosophien, die seit Jahrzenten beispielsweise in der Automobilindustrie angewendet werden. Ein Changeprozess dieser Art, der die ganze Organisation erfasst, muss vom Top-Management angestossen, vorgelebt und eingefordert werden. Eine tendenziell ablehnende Haltung vieler Mitarbeitenden gegenüber Veränderungsprozessen ist weit verbreitet und verzögert den Wandel. Diesbezüglich sind Start-ups mit ihren schlanken Organisationsstrukturen im Vorteil: Sie agieren in kleinen Teams und können sich mit einzelnen Aspekten in der Prozesslandschaft befassen. Die innerorganisatorische Komplexität ist um ein Vielfaches tiefer, was sich punkto Prozesseffizienz positiv auswirkt. Ein innovatives Beispiel ist die digitale, checklistenbasierte Operationsplanung, -begleitung und -nachbesprechung. Bei dieser aus der Luftfahrt übernommenen Arbeitsweise werden die Operateure mit Software und Tablets unterstützt hinsichtlich der Abläufe, die einzuhalten sind, wodurch die Fehlerquote reduziert werden kann. Insbesondere in kritischen Situationen hilft eine klare Struktur, die richtigen Handlungen in der richtigen Reihenfolge vorzunehmen und dadurch die Risiken für den Patienten zu minimieren (1).
Ein weiteres Beispiel im Bereich der Prozesseffizienz ist die Digitalisierung der «Patienten-Journey». Hier geht es darum, die administrativen Prozesse vor, während und nach dem Spitalaufenthalt eines Patienten effizient zu gestalten, lückenlos zu dokumentieren und die heute nach wie vor zahlreich vorhandenen Doppelspurigkeiten zu reduzieren. Der Begriff Patienten-Journey umfasst insgesamt den physischen und administrativen Weg eines Patienten von der Erkrankung, der Erstdiagnose (meist beim Hausarzt) über die weitere Vermittlung zur Spezialistin und die ambulante be-ziehungsweise stationäre Versorgung in einer geeigneten Institution bis hin zur Nachversorgung.
Trends bei der ambulanten Versorgung
Schauen wir bei dieser Journey genauer hin, so kommen zu Beginn der ärztlichen Versorgung durch die Hausärztinnen und Hausärzte Themen auf wie Telemedizin (2), digitaler Kontakt zwischen Patient und Arzt (3), elektronische Medikation (4), Medikamentenversand oder elektronische Überweisungen zu Spezialisten. Immer öfter im Einsatz sind medizinische Geräte, mit denen Patientinnen und Patienten mit chronischen Krankheiten wie beispielsweise Diabetes oder Bluthochdruck zu Hause ihre Vitalwerte ermitteln, wobei die Daten via Internet der Dinge (IoT) automatisch an die Gesundheitsdienstleister übermittelt werden (5). Auf selbe Weise werden zunehmend auch Laborwerte durch die Patienten selbst ermittelt und mit den Gesundheitsdienstleistern geteilt (6). Durch das Fehlen von einigen Tausend Hausärztinnen und Hausärzten in absehbarer Zukunft stellt sich die Frage, wie die medizinische Grundversorgung langfristig sichergestellt werden kann. Neben den vorgängig erwähnten Effizienzstei-gerungen können digitale Triagen und telemedizinische Behandlungen Abhilfe schaffen. Hierbei wird sich ein volkswirtschaftlicher Nebeneffekt einstellen, indem sich für die Patientin oder den Patienten eine Ersparnis an Zeit und Reisekosten ergibt, weil der Gang zum Hausarzt wegfällt. Auch wenn der persönliche Besuch bei der Hausärztin heute noch nicht wegzudenken ist: Der Kontakt, die Terminbuchung, Behandlung, Therapie, Überweisung und Medikation werden insgesamt digitaler werden. Dadurch, dass der Arzt seinen Patienten zukünftig tendenziell seltener physisch bei sich in der Praxis haben wird und ihn bei Bedarf untersuchen kann, kommt dem differen-zierten Gespräch zwischen Mediziner und Patient eine immer bedeutendere Rolle zu, wobei die durch den Patienten ermittelten Vitalwerte eine wichtige Grundlage sein werden. An all diesen Entwicklungen arbeiten junge wie auch etablierte Unternehmen aktiv und bieten bereits heute Lösungen an. Die Herausforderung wird indes immer die Schnittstelle zwischen digitaler Welt und realer Behandlung bleiben. So wird sich die Logistik zum Endkunden auch im Healthcare-Bereich etablieren, wie wir es aus der Konsumgüterbranche kennen. Gleichzeitig zeichnet sich eine Verschiebung von gewissen Tätigkeitsfeldern ab. So könnte nach einer telemedizinischen Konsultation die erforderliche Blutentnahme beispielsweise in der nächstgelegenen Apotheke durchgeführt werden. Für Einrichtungen wie Altersheime, die üblicherweise keinen internen Hausarzt haben, bietet die Telemedizin insofern eine Chance, als dass ein Hausarzt zukünftig zu jeder Tages- und Nachtzeit verfügbar sein wird und mit Bild und Ton zugeschaltet werden kann. Auch beim Thema Medikamente eröffnen sich zahlreiche digitale Aspekte. Etliche Unternehmen haben sich der Medikamentenlogistik, Wirkungskontrolle, Erkennung von Nebenwirkungen inklusive Pharmakogenetik (7) oder Compliance (8) (getreue Einnahme von Medikamenten) angenommen. Insbesondere der Aspekt der Compliance ist ein Dauerthema und ein wichtiger Ansatzpunkt für die Steigerung der Behandlungseffektivität und der Kosteneffizienz. Mithilfe digitaler Lösungen kann die Compliance zuverlässig überwacht werden, was den Ärztinnen und Ärzten hilft, die Wirkung der verschriebenen Medikamente zu beurteilen. In Kombination mit den erwähnten IoT-Geräten für Zuhause, die umfassende Vitaldaten einer Patientin liefern, wird mithilfe der Digitalisierung auch eine zielgenauere Medikation möglich, was wiederum einen positiven Effekt auf deren Wirksamkeit hat.
Leistungsfähige Gesundheitsdaten-Sensorik
Die technischen Möglichkeiten der weit verbreiteten tragbaren Sensoren (Wearables) zur Messung von Körperfunktionen führen dazu, dass der «Gesundheitszustand» einer Person permanent erfasst werden kann (9). Heute dreht sich die Diskussion vor allem darum, von wem und wofür die Daten gesammelt werden und wie sicher sie sind. Die Diskussionen, in denen gegenwärtig noch viele kritische Stimmen zu vernehmen sind, werden mit jeder Früherkennung eines drohenden Hirnschlags oder Herzinfarkts weniger energisch geführt werden und der Nutzen der Sensorik wird sich mehr und mehr in den Vordergrund schieben. Mit dem breiten Erfassen von Daten wird der Einsatz von künstlicher Intelligenz, welche die Früherkennung durch Auswertung von Sensordaten unterstützt, erst möglich, beispielsweise bei der Erkennung von Tumoren. Auch in diesem Bereich sind zahl-reiche Unternehmen tätig und haben bereits Lösungen entwickelt (10.) Viele der skizzierten Lösungen haben das Potenzial, den bestehenden «Gold-Standard» zu disruptieren, denn sie weisen tiefere Kosten und eine kürzere Behandlungszeit auf. Aktuell verhindern allerdings verschiedene Interessensverbände pragmatische, effiziente und kundenorientierte Lösungen, in dem sie einen Anspruch auf Besitzstandwahrung erheben. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das Gesundheitswesen weiterhin Leistungen für Patienten oder aber bedürfnisorientierte Dienstleistungen ausgehend von einer Kundenperspektive erbringen soll. Mittelfristig werden die bestehenden Strukturen aufgebrochen – durch die dank der Digitalisierung immer besser informierte Kundschaft. Hier ist auch die öffentliche Hand gefordert, verhindert sie nicht zuletzt durch mehrere Interes-senkonflikte als Gesetzgeber, Leistungserbringer, Zahler und Überwacher den Fortschritt. Verbindendes und zentrales Element eines digitalen, schlanken und effizienten Gesundheitswesens wird ein kundennut-zenstiftendes Patientendossier sein. Und Grundlage dazu wiederum ist eine elektronische Identifikation. In dieser Sache muss die Politik dringend die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen. Es ist zu wünschen, dass wir im Sinne einer innovativen Wirtschaft und damit rosperierenden Volkswirtschaft dem digitalen Wandel mit Wohlwollen begegnen und die Risiken umsichtig managen. Wenn wir weiter passiv bleiben, werden die kundenorientierten, nutzstiftenden Lösungen von den grossen, internationalen Technologiekonzernen angeboten werden, mit den bekannten Unsicherheiten bezüglich Datenhoheiten und Monetarisierung. Setzen wir die Rahmenbedingungen jetzt und richtig, dann können einheimische Lösungen entstehen, die man kennt, die hiesigem Recht unterstehen und in die wir als Kundinnen und Kunden ein Vertrauen aufbauen können. Vertrauen ist der Schlüssel zum Erfolg, nicht nur – aber auch, wenn es um Gesundheit und Gesundheitsdaten geht.
(1) Nodus Medical www.nodus-medical.com , VirtaMed www.virtamed.com
(2) Eedoctors www.eedoctors.com, Misanto www.misanto.ch, OnlineDoctor www.onlinedoctor.ch, Soignez-moi.ch www.soignez-moi.ch
(3) OneDoc www.onedoc.ch
(4) Innovation 6 www.innovation6.ch
(5) Medisanté www.medisante.ch
(6) Lykon www.lykon.de
(7) Sonogen www.sonogen.eu
(8) Smartpatient www.mytherapyapp.com
(9) Ava www.avawomen.com , Biovotion www.biovotion.com
(10) B-rayZ www.b-rayz.ch, Exploris www.exploris.info
Stefan Leuthold ist Clustermanager von Health Tech Cluster Switzerland, dem Schweizer Netzwerk im Bereich Gesundheitstechnologie. Er weist breite industrielle Erfahrung in den Bereichen Entwicklung, Produktion, Verkauf und Business Development aus und verfügt über eine internationale Managementausbildung (Int. Executive MBA). Mit seinen weiteren Abschlüssen als Maschinenbau- und Kunststoffingenieur (FH) bringt er wertvolle Kenntnisse bezüglich Technologien, Prozessen und Innovationen ein.