Herr Prof. Zünd, welche Bedeutung haben die Fortschritte der medizinischen Genetik für das Universitätsspital?
Lassen Sie uns zunächst die Begriffe klären: Die medizinische Genetik ist an der Universität Zürich im Institut für medizinische Genetik angesiedelt. Wir im Spital machen in diesem Sinne keine medizinische Genetik. Wir führen bei uns eine molekulare Diagnostik oder auch molekular-pathologische Diagnostik durch.
Wo liegt der Unterschied?
Das Institut für medizinische Genetik bie-tet Untersuchungen oder Dienstleistungen für Patienten mit genetisch bedingten Erkrankungen an, beispielsweise erblich bedingten Brustkrebs, Wachstumsstörun-gen und Seh- und Hörstörungen. Das sind die klassischen Erbkrankheiten.
Und das Universitätsspital Zürich?
Wir sind spezialisiert auf die DNA-Sequenzierung. Das ist unser Fokus und unsere Stärke. Wir haben eine ganz spezifische personalisierte molekulare Diagnostik, um die Veränderungen in der Erbsubstanz eines Patienten zu analysieren. Dazu müssen wir grosse Mengen von Daten verarbeiten, um die Veränderungen der DNA zu verstehen und die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen.
Welche Rolle spielt die molekulare Diagnostik für das Spital?
Eine Schlüsselrolle. Es gilt der Grundsatz: Je präziser die Diagnose ist, desto spezifischer kann die Therapie erfolgen, desto höher ist die Lebensqualität der Patienten und desto kostengünstiger wird es für das Spital. Danach haben wir unsere Strategie ganz klar ausgerichtet und deshalb kommt der Diagnostik eine so tragende Rolle zu.
Was heisst das konkret?
Unsere molekulare Diagnostik ist ein Querschnittsfach, das fast alle unsere 44 Kliniken und Institute betrifft. Die Technologie, die wir anwenden, ist das Next-Generation-Sequenzing. In diesen Bereich haben wir in den letzten Jahren rund 50 Millionen Franken investiert. Es wurden grosse Diagnostiklabore eingerichtet und das Personal umstrukturiert. Ursprünglich klassische Pathologen haben Zusatzausbildungen absolviert und sich auf die Hochdurchsatzsequenzierung spezialisiert. Darüber hinaus sind bei uns vermehrt Bioinformatiker tätig, um mit diesen grossen Datenmengen bestmöglich umzugehen.
«In die DNA-Sequenzierung haben wir
rund 50 Millionen Franken investiert.»
Eine deutliche Aufwertung der Pathologie?
Das stimmt. Im Bereich Diagnostik haben wir die Pathologie mit der klinischen Chemie, der Hämatologie und der Immunologie zusammengeführt.
Was heisst das konkret?
In diesem Bereich erfolgt nicht nur eine hochspezialisierte Diagnostik, sondern aus diesem Bereich kommen auch ganz konkrete Empfehlungen für die Therapie.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
In der Praxis kann das so aussehen, dass die molekulare Diagnostik bei einem Krebspatienten feststellt, dass der Tumor auf eine bestimmte Art und Weise beschaffen ist. Dann erhält der behandelnde Arzt die Information, dass für die-sen speziellen Tumor drei Medikamente zur Therapie infrage kommen. Interes-sant ist zudem, dass molekulare Defekte nicht organspezifisch sind.
Was meinen Sie damit?
Hat der Patient beispielsweise einen Hirntumor, kann es sein, dass der molekulare Defekt Ähnlichkeiten mit einem klassischen Brusttumor hat, sodass die Pathologie empfehlen wird, dass Medikamente, die man normalerweise für ein Mammakarzinom einsetzt, auch für den Gehirntumor Anwendung finden könnten.
Wenn molekulare Defekte nicht organspezifisch sind, macht dann Ihre Struktur, die ja nach Organen gegliedert ist, noch Sinn?
Wir haben die Onkologie mit 17 Tumorzentren heute nach Organen organisiert, das stimmt, aber wir haben ein gemeinsames Fundament und das ist die molekulare Diagnostik. Es macht daher schon Sinn, weil es für die Patienten so viel klarer ist. Diese 17 Zentren sind die Anlaufstationen.
«Vor fünf Jahren wurden 90 Prozent der Onkologie-Patienten stationär behandelt, 10 Prozent ambulant. 2018 war es genau umgekehrt – 90 Prozent ambulant, 10 Prozent stationär.»
Wie zufrieden sind Sie mit den Ergebnissen des Ausbaus der molekularen Diagnostik?
Ich denke, dass wir hier international ganz weit vorne sind und das hat sich in der Branche auch herumgesprochen. Wir bekommen Tumorproben aus der ganzen Welt. Aus Brasilien, Afrika, Asien, weil man weiss, was wir mit unserem neuen Ansatz hier leisten können.
Das klingt alles sehr positiv. Wo liegen die Herausforderungen?
Es gibt eine grosse Dynamik in der Technologieentwicklung. Geräte zur Sequenzierung sind sehr teuer und häufig nach zwei bis drei Jahren schon veraltet. So ein Gerät kostet schnell mehr als 500 000 Franken. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Investitionen lohnen. Je besser wir in der Diagnose sind, desto mehr können wir bei den Investitionen für Operationen sparen. Aber wir investieren nicht nur in Maschinen, wir haben auch zusammen mit der Universität Zürich und der ETH Bioinformatiker zu uns geholt. Das hat sich bestens bewährt, das gibt uns in der Welt von Big Data eine ganz neue Position.
Wird im Unispital bei jedem Patienten eine molekulare Diagnose erstellt?
Nein, wir machen es heute nur bei Tumorpatienten. Und im nächsten Schritt werden es die Herzpatienten sein. So gehen wir Schritt für Schritt vor.
Warum gerade bei Herzpatienten?
Zum einen, weil wir sehr viele Patienten mit Herzerkrankungen haben. Etwa ein Drittel unserer Patienten sind Tumorpatienten, ein weiteres Drittel sind Herzpatienten. Zum anderen: Eine Herzerkrankung tritt nicht plötzlich auf. Ein Herzinfarkt beispielsweise hat immer eine Vorgeschichte von rund 20 Jahren. Der Hintergrund kann Arteriosklerose sein oder eine Herzinsuffizienz. Beides ist höchstwahrscheinlich molekular bedingt. Und je früher wir erkennen können, wer zu welchem Krankheitsmuster tendiert, desto besser können wir helfen. Dabei hilft uns die DNA-Sequenzierung.
Das würde doch bedeuten, dass jeder so früh wie möglich eine molekulare Diagnose machen sollte?
Ja, ganz genau. Das ist wahrscheinlich viel günstiger und effizienter im Vergleich zur heutigen Situation und so können wir eine bessere Qualität für das Leben der Menschen erreichen. Es muss nicht unser Ziel sein, alles heilen zu wollen. Das ist im biologischen System nicht vorgesehen. Der Tod ist definiert. Aber es muss unser Ziel sein, jemanden mit einer Erkrankung eine weiterhin hohe Lebensqualität zu ermöglichen.
«Mehr Innovation erzeugt eine bessere Diagnostik,
resultiert in einer effektiveren Behandlung und führt zu kürzeren Aufenthaltszeiten und einem geringeren Bettenbedarf.»
Abgesehen von der Genetik, welche Trends erwarten Sie für das Unispital und wie werden Sie darauf reagieren?
Signifikant ist der Wandel von stationär zu ambulant. Ein Beispiel aus der Onkologie: Vor fünf Jahren wurden 90 Prozent der Patienten stationär behandelt und 10 Prozent ambulant. 2018 war es genau um-gekehrt – 90 Prozent der Patienten ambulant, 10 Prozent stationär.
Gehen Sie deshalb in den «Circle» am Zürcher Flughafen?
Ganz genau. Wir brauchen grosse ambulante Zentren und trennen so ambulant und stationär komplett. Es sind völlig andere Prozesse und andere Patienten. Darum bringen wir die ambulante Medizin dorthin, wo die Personenströme sind und konzentrieren uns hier auf dem Campus auf die hochspezialisierte stationäre Medizin. Und das mit weniger Betten.
Ist der Flughafen wirklich so geeignet? Warum nicht am Hauptbahnhof in Zürich?
Die Fläche, die wir am HB Zürich bräuchten, die gibt es leider nicht und sie wäre auch zu teuer. Aber wir haben die Fläche am Flughafen gefunden. Wir gehen da nicht hin wegen des Flugverkehrs, sondern wegen der Intercityzug-Anbindung, S-Bahnen, 40 Buslinien, zwei grossen Tramver-bindungen und dem Individualverkehr. Das macht es spannend. Damit bringen wir die ambulante Medizin dahin, wo wir die grossen Personenströme haben.
Und brauchen damit stationär weniger Betten?
Wir reduzieren in Zukunft auf 850 Betten und geben mehr Geld in unsere Innovationsfonds. Damit können wir Innovation fördern. Und Innovation hat ganz viel mit Gen-Analytics zu tun. Weniger Betten sind natürlich anspruchsvoller und komplexer, das zwingt uns dazu, alles besser zu organisieren. Aber die Richtung halte ich für erfolgsversprechend: Mehr Innovation erzeugt eine bessere Diagnostik, resultiert in einer effektiveren Behandlung und führt zu kürzeren Aufenthaltszeiten und einem geringeren Bettenbedarf.
Und die Patienten, die Sie in Zukunft noch stationär behandeln, liegen dann in Einzelzimmern. Andere Spitäler halten an einem hohen Anteil von Mehrbettzimmern fest. Was wissen Sie, was die anderen nicht wissen?
Ich bin der Meinung, wir als Universitätsspital haben die Verantwortung, die Medizin von morgen und von übermorgen zu definieren. Da gehört die Bettendiskussion um Einzelzimmer dazu. Und ein grosses Thema in der Medizin von morgen sind Infektionskrankheiten.
Was meinen Sie konkret?
Wir haben heute vieles gut im Griff, aber Infektionen nicht annährend. Zum Beispiel virale Infektionen. Das sind zentrale Probleme. Viele, die uns kritisieren, haben den Entscheid im Zuge ihrer Bauplanung vor 10 Jahren oder mehr getroffen, da sah die Welt noch ganz anders aus.
Welches sind die wichtigsten Argumente für Einbettzimmer?
Es sind drei wesentliche Aspekte. Erstens: Der medizinische Aspekt wie die schon genannten Infektionen, aber auch Themen wie Erholung und die Möglichkeit, kleinere Interventionen im Zimmer durchzuführen. Zweitens sind es sehr praktische betriebliche Aspekte. Sie müssen die Patienten nicht mehr so viel he-rumfahren und brauchen daher weniger Personal. Und drittens sind es ethische Aspekte. Vertrauliche Gespräche in Mehrbettzimmern zu führen, ist nicht mehr zeitgemäss.
Herr Professor Zünd, wir danken Ihnen für das Gespräch!