Seit rund vier Jahren arbeitet das SRO in Langenthal mit einem papierlosen Materialmanagement, das sich in der Praxis bewährt hat. Initiator und Projektleiter Roger Giger erläutert die Besonderheiten und Vorteile des Systems.
▶ INTERVIEW: FLORIAN FELS
Wie entstand die Idee zur Einführung eines papierlosen Papiermanagements?Roger Giger: Ich komme ursprünglich aus der Industrie. Unter anderem habe ich vorher bei Roche Diagnostics und Synthes gearbeitet. Da sind die Prozesse im Materialmanagement sehr gut organisiert und etabliert. Kurz nachdem ich vor knapp 6 Jahren beim SRO angefangen habe, war ich zum ersten Mal im OP-Bereich und habe gesehen, wie dort Implantate beschafft wurden. Mit Fax und Rauchzeichen sozusagen, prähistorisch aus meiner Sicht. Rund zehn Leute haben sich mit Materialmanagement beschäftigt. Zwar nicht zu 100 Prozent, aber jeder hat daran mitgewirkt. Als ich aus dem OP-Bereich rausgelaufen bin, habe ich mir gesagt, das werde ich ändern.
Wie war die Reaktion Ihrer Kolleginnen und Kollegen?Jeder hat mich mit grossen Augen angeschaut und gesagt, das geht nie, das kann man nicht. Das haben wir immer schon so gemacht und das muss so weiterlaufen. Das bringt man nie in einen Materialmanagement-Prozess, insbesondere nicht für Implantate und Schrauben und schon gar nicht für Medikamente.
Was Sie aber nicht davon abgehalten hat, das Projekt durchzuziehen.Nein. Mir war klar: Wir brauchen ein Materialmanagement-System, das alle Bereiche abdeckt, inklusive Medikamente. Im Zentrallager hatten wir eine kleine ERP-Software, die gerade so ausreichte für einige Abteilungen, in der Apotheke hatten wir auch etwas Ähnliches. Aber damals habe ich gesagt: Wir machen jetzt mal ein Projekt, bei dem wir uns den gesamten Bereich anschauen.
Haben Sie so ein Projekt vorher schon einmal umgesetzt?Nein, das war auch für mich das erste Mal. Ich hatte natürlich vorher bei anderen Unternehmen gesehen, wie solche Systeme funktionieren und ich hatte auch das eine oder andere Projekt mit Stücklisten hinter mir.
Wie sind Sie vorgegangen?Wir haben erst einmal alle Bedürfnisse aufgenommen. Mithilfe des externen Projektleiters bin ich praktisch in jede Abteilung gegangen und wir haben die Anforderungen aufgenommen, auch die Probleme angeschaut und genau ermittelt, wer sich alles um die Materialbeschaffung kümmert. Da hat man schon gemerkt, was seit Jahren nicht gut funktioniert.
Inwiefern?Das Bild war erschreckend! Weil wir gesehen haben, wie viele Leute in die Prozesse involviert waren und was für ein Papieraufwand nötig war. Es gab auch immer wieder Materialengpässe. Irgendwie ging es dann zwar doch. Die Frage war allerdings: Wie funktioniert es und mit welchem Aufwand?
Wie lange hat die Bedarfsaufnahme gedauert und wer hat Sie unterstützt?Die Gespräche mit den verschiedenen Abteilungen haben rund drei Monate gedauert. Dabei wurde ich schon von einem Mitarbeiter der Software-Firma unterstützt, die das neue System einführen sollte.
Wie lange hat das Projekt insgesamt gedauert?Nach der dreimonatigen Bestandsaufnahme hat das Projektteam mit Consight etwa vier Monate gebraucht, um zu analysieren, was technisch machbar ist, welche Schnittstellen man braucht, ob das Ganze über WLAN funktioniert, welchen Scanner wir einsetzen und ob es eventuell Datenschutzprobleme gibt. Im Ergebnis stand nach sieben Monaten dann die Roadmap.
Und wie lange hat es dann noch gedauert, bis die ersten Abteilungen tatsächlich mit dem neuen System arbeiten konnten?Noch einmal vier Monate. Damit gingen die ersten Abteilungen 11 Monate nach Projektbeginn live. Wir haben natürlich nicht alles auf einmal umgesetzt, sondern haben Schritt für Schritt die neue Lösung in den Bereichen eingeführt. Am Anfang haben wir die eher einfachen Prozesse umgestellt für die Materialien auf den Stationen wie beispielsweise Pflaster oder Verbände. Der gesamte Ausrollprozess betrug rund ein Jahr und dann kam die Königsdisziplin mit den Operationsräumen.
Wie gross war der Aufwand für die Abteilungen?
Sie mussten uns natürlich für die Treffen zur Verfügung stehen und dann genau definieren, welche Materialien sie benötigen, welche Mengen sie auf Lager haben müssen und welche Nachlieferungen eilig sind. Vorher war es so, dass man einfach zum Telefonhörer griff und per Express bestellte, wenn die Zeit knapp war. Das war dann häufig auch eine Art Feuerwehrübung. Da wurden Implantate mit dem Taxi oder sogar dem Hubschrauber aus Luzern besorgt. Dass das ganze Drumherum so eine Ad-hoc-Bestellung teuer macht, wurde ignoriert. Denn für denjenigen, der bestellt hat, war das Problem dann gelöst, er bekam ja seine Ware.
Wie erfolgte die Software-Auswahl?
Wir haben uns im Vorfeld verschiedene ERP-Systeme angeschaut. Wir hatten das SAP-ERP bereits in unserer Finanzabteilung. Daher war es naheliegend, auch die Materialmanagement-Software von SAP einzuführen. Darüber hinaus waren wir aber auch interessiert an den Konsignationsprozessen und einer Scannerlösung und sind dann recht schnell auf die Firma Consight gestossen.
Wo liegt der Schwerpunkt von Consight?Consight ist eine Softwarefirma, die unter anderem SAP-Betreuung anbietet, aber eben auch Materialmanagement-Systeme und kundenspezifische SAP-Lösungen einführt. Ich muss sagen, Consight hat einen hervorragenden Job gemacht und sie setzen zurzeit ein vergleichbares Projekt in einem anderen Schweizer Spital um. Sehr hilfreich waren sie auch bei der Optimierung der Anzahl der SAP-Lizenzen. Das ist von den Kosten her ein sehr wichtiger Aspekt. Interessanterweise brauchen wir beispielsweise durch unsere Lösung mit dem Webshop weniger Lizenzen als vorher.
Ein wichtiges Tool ist der Scanner. Wird dieser in allen Bereichen eingesetzt?Ja, die gesamte Materialerfassung erfolgt über einen handelsüblichen Ipod-Scanner, der in allen Abteilungen, in den verschiedenen Bereichen, auch in der Apotheke eingesetzt wird. Mit diesem Scanner kann man alles machen, was für die Materialbewirtschaftung nötig ist: Wareneingänge buchen, Bestände korrigieren, Nachbestellungen auslösen und vieles mehr. Über das ganze Haus setzen wir nur einen Scannertyp ein, der auch lieferantenunabhängig ist.
Warum betonen Sie die Unabhängigkeit des Scanners von den Lieferanten?Ich habe in anderen Spitälern Software-Lösungen gesehen, die mit unserer vergleichbar sind. Aber dort wurden bis zu fünf verschiedene Scannertypen eingesetzt, teilweise von Lieferanten bereitgestellt. Damit macht man sich natürlich abhängig von den Lieferanten, weil dann nur deren Waren gescannt werden können.
Sind die Scanner personenbezogen?Nein, mehrere Personen können sich einen Scanner teilen, sie müssen sich dann jeweils mit dem Batch anmelden. Ausserdem haben wir auch einen internen Webshop für Mitarbeitende oder Abteilungen, die nicht so häufig bestellen, etwa Sekretariate. Die brauchen dann keinen eigenen Scanner, sondern können über den internen Webshop bestellen. Wir haben festgestellt, dass die Information darüber sehr wichtig ist, wer einen Scanner bekommt und wer bestellen darf. Das «Wer, Wie, Was, Wo» muss genau festgelegt werden. Früher konnte im Prinzip jeder bestellen, jetzt haben wir Materialverantwortliche und der Kreis derer, die bestellen dürfen, ist eingeschränkt. Das verlangt von den Abteilungen auch, dass sie sich neu organisieren und festlegen, wer wofür verantwortlich ist.
Warum war der OP-Bereich die grösste Herausforderung?Für jede Operation gibt es ja unzählige Varianten von Implantaten, Schrauben und Platten. Und die Entscheidung darüber, welche genauen Grössen eingesetzt werden, fällt meist erst während der Operation. Trotzdem müssen Sie das Ganze im Materialmanagement-Prozess abbilden können und dann für die Abrechnung natürlich auch noch fallbezogen.
Wie haben Sie das gelöst?Manche Lieferanten für Implantate, Schrauben und Platten haben 200 000 bis 300 000 Artikel. Es wäre ein riesiger Aufwand, alle diese Stammdaten vorher ins SAP-System einzuspielen. Stattdessen haben wir Excel-Listen erstellt, die im Hintergrund bereitstehen. Sobald ein Artikel während der Operation gebraucht wird und der Barcode mit den Ipod-Scanner eingelesen wird, werden die Daten des Artikels von der Excel-Liste automatisch hochgeschossen ins SAP-System, und dort wird der Artikel dann im System angelegt. Sobald die Ware aus dem Konsignationslager physisch entnommen wird, wird via System dem Lieferanten eine Gutschrift erstellt und gleichzeitig eine Nachbestellung ausgelöst, alles vollautomatisch. So konnten wir alle benötigten Materialien und Medikamente fallbasiert ausweisen und verbuchen. Und natürlich auch abgleichen mit den Fallpauschalen und somit prüfen, welche Fälle kostendeckend sind und welche nicht.
Das ging vorher nicht?Das wurde früher alles auf Papier dokumentiert, das hat dann schon jemand auch einmal ausgerechnet, aber das ging alles nur manuell und viel aufwendiger.
Wie funktioniert das System bei der Operationsvorbereitung?
Das ist eigentlich der Clou der Software, neben der fallbezogenen Strukturierung. Unser System ist mit dem Behandlungskalender via Kisim verknüpft. Sobald ein Arzt eine Operation in den Kalender einträgt, lädt das System automatisch alle Materialien dazu hoch, die normalerweise benötigt werden und sorgt dafür, dass die Ware zur Operation vorbereitet ist. Darüber hinaus lernt das System, welche Eigenarten die verschiedenen Operateure haben. Benutzt ein Arzt beispielsweise einen speziellen Tupfer, wird dieser Tupfer bei der nächsten vergleichbaren Operation bei diesem Operateur wieder bereitgestellt.
Und die etwa 20 Prozent des Materials, die bei der Operation spontan zusätzlich eingesetzt werden müssen?
Die werden während der Operation von dem Materialverantwortlichen aus dem OP-Lager entnommen, natürlich auch gescannt und dem Operateur zur Verfügung gestellt. Andererseits kann der Materialverantwortliche auch Materialien, die vorbereitet waren, aber nicht benötigt werden, ins Lager zurückgeben. So haben wir am Ende des Tages für jede Operation genaue Stücklisten, auf denen alle verwendeten Materialien und Medikamente aufgeführt sind.
Und als Nebeneffekt können Sie die Kosten, die verschiedene Ärzte bei gleichen Operationen verursachen, auch direkt vergleichen.Absolut. Wir schaffen so natürlich eine Transparenz, die für das Controlling sehr hilfreich ist. Es geht aber nicht darum, jemanden schlecht zu machen, sondern darum, zu schauen, wo man eventuell noch etwas sparen kann, ohne die Qualität zu senken.
Und es gab gar keine Probleme während der Einführungsphase?Technisch lief alles einwandfrei. Was jedoch hätte besser laufen können, ist die Kommunikation. Wir waren stark auf die technischen Details konzentriert und wir mussten lernen, dass wir die Mitarbeitenden immer wieder unterstützen und ihnen erläutern müssen, wo wir zurzeit mit dem Projekt stehen und was als Nächstes auf sie zukommt.
Was würden Sie das nächste Mal anders machen?Ich würde beispielsweise einen regelmässigen Newsletter verschicken, der über das Projekt informiert. Auch eine Tafel mit den wichtigsten Informationen ist hilfreich und von Zeit zu Zeit eine Veranstaltung, bei der informiert wird und wo die Mitarbeitenden auch die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen.
Haben Sie jetzt alle Materialien in SAP erfasst?Ja, im Prinzip schon. Bei uns sind über 99,99 Prozent aller Waren in SAP erfasst, von der kleinsten Schraube bis zum medizinischen Gerät. Das entlastet die Finanzbuchhaltung, die Wareneingänge und weitere Abteilungen. Ich weiss von anderen grossen Spitälern, da laufen noch zwei Drittel aller Waren ausserhalb von SAP. Man nennt das Maverick Buying, ein Graus für Einkäufer.
Sie haben erwähnt, dass technisch alles einwandfrei funktioniert hat. Das ist bei IT-Projekten ja eher die Ausnahme als die Regel. Wie waren Sie darauf vorbereitet, falls etwas nicht funktioniert hätte?Als Back-up hatten wir die ganze Zeit noch das alte System bereit. Wenn also etwas schief gegangen wäre, hätten wir problemlos nach dem alten Schema weiterarbeiten können.
Man hört häufig aus anderen Spitälern, dass neue Prozesse mit den Ärzten nur schwierig oder gar nicht umzusetzen sind.
Das ist aus meiner Sicht häufig nur ein Vorwand, um Veränderungen nicht anzugehen. Ich habe bei uns die Erfahrung gemacht, dass die Ärzte das neue System sofort akzeptiert haben. Letztendlich wollen sie operieren und sich nicht um Material-Themen kümmern.
Können Sie uns einen Überblick über die notwendigen Investitionen geben?Aufwendig waren zum einen sicherlich die Scanner, die kosten alleine rund 200 Franken pro Stück. Und dann braucht man das spezielle Lesegerät für den Scanner, der den Barcode liest, der kostet noch mal etwa 200 Franken. Für unsere Grösse mit 180 Betten, da brauchen Sie schnell einmal 50 Scanner. Neue Server waren nicht nötig, das neue System wurde einfach in die bestehende Plattform integriert. Wir brauchten dann noch das Modul MM (Material-Management) von SAP und die Schnittstelle zu der Software. Wenn man MM von SAP schon im Haus hat, kostet die Software inklusive Scanner für ein Spital unserer Grösse etwa 150 000 bis 200 000 Franken externe Kosten. Und dann entstehen noch interne Kosten für die Projektumsetzung.
Hat sich das Projekt gerechnet?Die Investitionen hatten sich bereits nach neun Monaten amortisiert.
Woher kamen die Einsparungen?Vorher wurde kreuz und quer bei zahllosen Lieferanten bestellt. Das haben wir alles auf ausgewählte Lieferanten gebündelt. Dadurch konnten wir bessere Preise verhandeln. Ausserdem konnten wir die Lagerbestände massiv reduzieren und es gab Einsparungen beim Personal. Der Aufwand für das Personal wurde insgesamt um etwa eine volle Stelle reduziert.
Was hätte ausser der Kommunikation noch besser laufen können in Ihrem Projekt?Damit alle von Anfang an mit im Boot sind, würde ich das nächste Mal die Projektgruppe erweitern und ausser der IT auch Vertreter von OP, Pflege, Labor und Apotheke mit aufnehmen, in ein Steering Committee beispielsweise. Und auch jemanden aus der Direktion, damit es entsprechend hoch aufgehängt ist.
Ihr System läuft ja jetzt schon eine gewisse Zeit, gab oder gibt es Kinderkrankheiten?Es gibt keine besonders grossen Probleme. Die Scanner werden sehr häufig genutzt, was auf die Akkuleistung schlägt. Hier bauen wir jetzt stärkere Akkus ein. Das ist beispielsweise ein Learning.
Haben Sie mit diesem System und der präzisen fallbezogenen Abrechnung nicht auch ein perfektes Tool, um weitere Kosten zu senken?Ganz genau. Als ich angefangen habe, hat man mir gesagt, du sollst die Kosten senken. Ja, aber um wie viel Prozent? Mir fehlte die Basis, um qualifiziert zu sagen, hier sind wir zu teuer und hier eventuell nicht. Jetzt kann ich es ganz genau sehen, indem ich die fallbezogenen Kosten mit den Fallpauschalen vergleiche. Ich sehe sofort, wo wir kostendeckend arbeiten und wo wir Probleme haben. Ich kann jetzt zu einem Implantate-Hersteller gehen und ihm ganz genau zeigen, hier, mit deinen Preisen können wir überhaupt nicht kostendeckend operieren (sogenanntes Target Pricing). Das ist natürlich eine ganz andere Ausgangsbasis und für das Controlling in Zusammenarbeit mit dem Einkauf eine neue Qualität.
Wo konkret können Sie das neue System noch einsetzen?Interessant wird es sicherlich bei den 18er-Listen, wie sie jetzt im Kanton Luzern vorgeschrieben sind. Immer mehr Eingriffe werden ja von der stationären Behandlung zur ambulanten Versorgung geschoben. Hier kann ich ganz schnell feststellen, welche Eingriffe für ein Spital wirtschaftlich sind und welche nicht. Auch für Einkaufsgemeinschaften gibt es zusätzliche Argumente. Wenn 30 Kliniken in einer Einkaufsgemeinschaft feststellen, dass der Preis für einen bestimmten Herzschrittmacher einen Fall unwirtschaftlich macht, kann ich gegenüber dem Hersteller ganz anders auftreten.