Pro Jahr behandelt das Bundesparlament über 500 Geschäfte (ohne Covid). Seit Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes gab es 44 neue KVG-Versionen. Zudem beschloss das Parlament ein neues Aufsichtsgesetz. Die Seitenzahl stieg seit 2000 von 40 auf 100 (KVG und KVAG). Dazu mussten 179 Verordnungsänderungen (Krankenleistungsverordnung und Krankenversicherungsverordnung) durchgeführt werden. Die administrative Belastung für Behörden und Leistungserbringer stieg in neue Dimensionen. Dadurch litt die Qualität der Regulierung. Es braucht ein Umdenken.
Die Kosten explodieren nicht, sondern bewegen sich seit den Neunzigerjahren auf einer Geraden. Ein US-Forschungsteam um den gesundheitsökonomischen Pionier Joseph Newhouse ortet sogar eine leichte Abflachung der Kurve und eine Reduktion der Wachstumsdifferenz zwischen dem Bruttosozialprodukt und den Gesundheitskosten. Seit circa zehn Jahren beginnt jedoch die Regulierung zu explodieren. Im Gegensatz zu Bildungs- und Energiethemen haben sich die parlamentarischen Geschäfte zu den Gesundheitsthemen verdoppelt.
Bei dieser hohen Zahl an parlamentarischen Initiativen, Motionen, Postulaten etc. wundert sich niemand, dass die Qualität der Vorschläge auf der Strecke bleibt. Dieser Wirrwarr an Vorstössen und Interessen ging auch am Bundesrat nicht spurlos vorüber. Denn die Qualität der Botschaften lässt ebenfalls zu wünschen übrig. Das Parlament ist dadurch oft überfordert und versucht den Schaden so klein wie möglich zu halten. Ein Auswuchs davon sind zum Beispiel die doppelt beschlossenen Qualitätsziele. Sie lassen sich nicht nur im Gegenvorschlag zur Kostenbremseinitiative finden, sondern auch im vier Jahre zuvor beschlossenen Qualitätsartikel. Die FMHPräsidentin Yvonne Gilli überschrieb einen Artikel in der Ärztezeitung treffend: Folgt auf «smarter medicine» nun «smarter politics»?
«Was ist zu tun?», wird sich die neue Departementschefin oder der neue Departementschef fragen, wenn sie/er nach der ersten Sitzung nach der Bundesratswahl das EDI bekommen hat. Das Beste wäre eine Überarbeitung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Seine Aufblähung von 44 auf 100 Seiten seit Inkrafttreten spricht Bände. Auch die Verordnungen dehnten sich entsprechend aus. Die Entwicklung des KVG verlief «organisch»; bei einer Stadt würde man sagen ohne Bau- und Zonenordnung. Wer einmal in amerikanischen Städten war, weiss wovon die Rede ist. So ist es mit dem KVG gegangen. Die angenommenen Vorstösse betrafen alle Themen kreuz und quer und mussten von Bundesrat und Verwaltung schliesslich umgesetzt werden. Dabei sind Widersprüche mit anderen Gesetzestexten kaum zu vermeiden. Bekanntestes Beispiel ist die Subvention der Tabakbauern auf der einen Seite und die Tabakprävention auf der anderen. Die Bundesverfassung wird in der Schweiz sowieso kaum beachtet. Seit Inkrafttreten des KVG hat sich der Anteil privatfinanzierter Leistungen von 50 Prozent auf 30 Prozent reduziert. Dabei steht in Artikel 41 BV unter den Sozialzielen: «Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein, dass jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält.» Das Parlament foutierte sich um diesen Subsidiartitätsartikel und dehnte das KVG eifrig aus. Trotz unaufhörlicher Kostenklagen und zahlreicher Kostendämpfungsvorstösse wurde sogar versäumt, die Selbstbeteiligung der Kostenentwicklung anzupassen. Diese ist seit 2004 auch nominal stabil bei einer Verdreifachung der Kosten. In dieser Zeit stieg das Kaffee Crème von Fr. 3,54 auf Fr. 4,39 (+25 %). Das Produkt ist hier dasselbe. Beim KVG gab es aber zahlreiche Ausweitungen des Leistungskatalogs. Beispielsweise waren die heutigen, patentgeschützten Medikamente noch gar nicht erfunden. Wäre die Kostenbeteiligung (Franchise und Selbstbehaltsobergrenze) angepasst worden, wären die Prämien circa 10 Prozent niedriger. Darüber hinaus erhöhte die Ambulantisierung die Prämien, da bei den stationären Spitalleistungen der Kanton 55 Prozent der Kosten übernimmt, bei den ambulanten dagegen nichts. Obwohl ambulante Leistungen in der Summe billiger sind, hat diese Umschichtung wegen der fehlenden Subventionierung die Prämien erhöht. Es verursacht in 20 Jahren eine Prämienerhöhung von 3,2 Prozent. Analoges gilt für den Pflegebereich.
Nach welchen Grundsätzen müsste das KVG überarbeitet werden?
Economiesuisse hat in seinen Leitlinien zur Gesundheitspolitik drei Gründe für die Regulierungsflut identifiziert: Erstens wächst der Grundversicherungsbereich stärker als der private Gesundheitsbereich. Zweitens wird die hochproblematische Mehrfachrolle der Kantone in der Gesundheitspolitik nicht angegangen. Und drittens werden neue Gesetze beschlossen, weil bestehende Normen nicht umgesetzt werden. Das Parlament nimmt zu wenig Einfluss auf einen effektiven und effizienten Vollzug der Normen und versucht die Mängel durch zusätzliche Gesetzestexte zu beheben. Dadurch erhöht man jedoch allein die administrativen Kosten, ohne wirklichen Mehrwert zu schaffen.
Mit sieben Grundsätzen einer guten Regulierungspraxis könnte hier Abhilfe geschaffen werden:
1. Keine direkte Steuerung der Marktergebnisse: Direkte Markteingriffe sind zu vermeiden. Indirekte Markteingriffe, beispielsweise mit Anreizen, sind vielversprechender.
2. Subjektfinanzierung statt Objektfinanzierung: Institutionen, Branchen- und Berufsverbände sollen nicht subventioniert oder begünstigt werden. Alle Vergünstigungen sollen direkt den Versicherten zukommen.
3. Subsidiaritätsprinzip gemäss Bundesverfassung: Dezentrale Lösungen sollen gegenüber zentralistischen Ansätzen bevorzugt werden.
4. Die Mehrfachrolle der Kantone (u.a. als Eigentümer, Auftraggeber, Kontrolleur und Zahler) ist aufzuheben oder mindestens deren schädliche Auswirkungen durch bessere Governance zu beseitigen. Die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen muss entflechtet werden.
5. Regulierungsversagen soll nicht durch neue Regulierung bekämpft werden. Vielmehr muss Bestehendes sauber umgesetzt werden, erst dann sollen (wenn nötig) Reformvorschläge formuliert und mit einer Regulierungsfolgeabschätzung begleitet werden. Die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments muss die Umsetzung in der Verwaltung konsequenter überprüfen.
6. Vereinfachung von Abläufen mit den Behörden im Bereich Konsultationen und Weisungen: Bei Datenlieferungen dem «Once-only-Prinzip» folgen und durchgehende Digitalisierung anstreben, statt Insellösungen zu verfolgen.
7. Kosten-Nutzen der Regulierung ex ante und ex post prüfen, Kostentransparenz anstreben und Raum für Selbstregulierung lassen. Eine sorgfältige Problemanalyse im Vorfeld ist entscheidend.