Applaus alleine reicht nicht
Herr Höchli, wie ist die Situation bei Ihren 2700 Mitgliedsunternehmen?
Daniel Höchli: Aktuell sind die Mitgliederinstitutionen in den Bereichen Menschen im Alter, Menschen mit Behinderung sowie Kinder und Jugendliche extrem gefordert, unter Krisenbedingungen ihren Auftrag zur Pflege, Betreuung und Begleitung der ihnen anvertrauten Menschen mit Unterstützungsbedarf zu erfüllen. Die Empfehlungen und Massnahmen des BAG und die kantonalen Vorgaben sind einschneidend und werden es voraussichtlich für die Pflegeheime, Institutionen für Menschen mit Behinderung und Kinder- und Jugendeinrichtungen auch mit den Lockerungsetappen noch einige Zeit bleiben – auch wenn dann bereits in vielen Branchen und für grosse Teile der Bevölkerung wieder eine gewisse Normalität eingesetzt hat.
Was bedeutet das konkret?
Die betrieblichen Herausforderungen für die Institutionsleitungen sind vielfältig. Sie beginnen grundsätzlich bereits bei der Einhaltung der Hygienemassnahmen des Bundes: Pflege, Betreuung und Begleitung lässt sich nicht aus dem Homeoffice bewältigen, und eine konsequente Umsetzung der empfohlenen Distanz von 2 Meter ist dabei ebenfalls illusorisch. Zur anspruchsvollen Bewältigung des Arbeitsalltags in einem Kosmos, welcher von Besuchsverboten und -einschränkungen geprägt ist, kommt die Organisation von teilweise knappem Schutzmaterial hinzu, ein Personalmanagement unter Berücksichtigung von Mitarbeitenden, die zu Risikogruppen gehören und/oder Symptome aufweisen, der Umgang mit Bewohnenden, die besonderen Schutz benötigen, da sie zu den Risikogruppen gehören sowie das effektive Managen im Falle einer Erkrankung von Bewohnenden und/oder Mitarbeitenden an Covid-19. Die momentane Situation ist für die Institutionsleitenden und ihre Mitarbeitenden höchst anspruchsvoll.
Wie beurteilen Sie die Arbeit der Regierenden?
Eine Beurteilung des Krisenmanagements von Bund, Behörden, Kantonen, Branchenvertretenden und Betrieben ist zum jetzigen Zeitpunkt aus Sicht Curaviva Schweiz noch nicht angebracht. Der Fokus aller Beteiligten liegt im Moment auf der bestmöglichen Bewältigung der Krise. Die Evaluation des Verbesserungspotenzials, zum Beispiel bezüglich Schutzmaterial-Versorgung, wird die verschiedenen Akteure jedoch sicherlich nach der Krise und zu diesem Zeitpunkt dann auch zu Recht beschäftigen.
Wie könnten Sie von der Politik noch besser unterstützt werden?
Curaviva Schweiz ist in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden, wie beispielsweise dem BAG, Seco, der GDK und SODK zur Klärung von Fragestellungen und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen, die eine hohe Relevanz für die Mitgliederinstitutionen bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten in dieser Krisensituation beinhalten. Es besteht bei den verantwortlichen Akteuren eine hohe Bereitschaft für die Berücksichtigung von wichtigen Anliegen bei Empfehlungen oder Massnahmen und entsprechende Nachbesserungen. Ein Beispiel dafür ist die Erweiterung der Empfehlungen für Pflegeheime auf Institutionen für Menschen mit Behinderung. Zu klären wird sein, wie die aufgrund der Krise entstandenen Mehrkosten der Betriebe finanziell erstattet werden. Curaviva Schweiz hat die Instrumente für die Erhebung der Kosten entwickelt und sucht auch in dieser Frage den Kontakt zu den Behörden.
Wie wird die Coronakrise die Gesundheitsbranche verändern?
Curaviva Schweiz hofft, dass die Coronakrise zu einer höheren Wertschätzung der systemrelevanten Organisationen und ihren Mitarbeitenden führen wird. Diese Anerkennung sollte nicht nur in einem Applaus münden, sondern in der Bereitschaft, die zu erbringenden Leistungen zu finanzieren und die Berufe sowie Ausbildungen zu fördern. Die Krise wird wohl auch das digitale Bewusstsein fördern, sei dies für den sozialen und beruflichen Austausch oder bezüglich assistierender Technologie bei der Ausübung von Tätigkeiten. Zudem hofft der nationale Branchenverband sehr, dass die Krise die Solidarität der Bevölkerung für Menschen mit Unterstützungsbedarf nachhaltig stärken wird.
Daniel Höchli, Direktor Curaviva Schweiz
Nicht nur Spitäler, auch Alterszentren müssen ausreichend mit Schutzmaterialien versorgt werden
Herr Stäger, welches sind die grössten Herausforderungen für Ihr Unternehmen?
Luca Stäger: An das Schutzmaterial zu gelangen und sicherzustellen, dass die Mitarbeiter und Gäste sicher sind und sich sicher fühlen.
Was läuft in der Krise besonders gut aus Ihrer Sicht, was läuft noch falsch?
Wir haben die Krise von Beginn an mit Argus-Augen verfolgt und frühzeitig einen Krisenstab institutionalisiert, der täglich tagt und laufend Massnahmen ergreift. Aber die eingeleiteten Schritte informieren wir unsere Häuser fast täglich und stellen wertvolle Tipps und Hilfsmittel zur Verfügung. Dabei unterstützen und entlasten wir unsere 80 Häuser in der Schweiz. Die Kommunikation erfolgt über eine eigens für diesen Vorfall eingerichtete E-Mail-Adresse, eine rund um die Uhr erreichbare Hotline sowie über unsere interne Mitarbeiter-App. Das Feedback der Geschäftsführenden, Mitarbeitenden und Gästen auf die offene und transparente Kommunikation ist durchwegs positiv. Die Teams in unseren Betrieben leisten unter erschwerten Bedingungen eine herausragende Arbeit. Es ist schön zu sehen, wie man sich vorbehaltslos gegenseitig unterstützt und miteinander durch die Krise schreitet. Alles zum Wohl unserer vulnerablen Gäste. Ein grosses Dankeschön an alle!
Wie können Sie von der Politik noch besser unterstützt werden?
Indem sichergestellt wird, dass nicht nur Spitäler, sondern insbesondere auch Wohn- und Pflegezentren für Senioren ausreichend mit Schutzmaterial beliefert werden. Insbesondere bei Tertianum, da in 16 Kantonen präsent, wäre eine einheitlichere Ansprache der kantonalen Richtlinien und Anweisungen wünschenswert.
Wie wird die Coronakrise Ihr Geschäft und die Branche verändern?
Das ist schwer vorauszusagen. Was wir klar sehen, ist, dass es den Senioren in den Pflegebetrieben psychisch besser geht, als jenen, welche alleine zu Hause sind. Obschon die Belastung auch für unsere Senioren hoch ist, so sind unsere Gäste nicht einsam und von der Aussenwelt abgeschnitten, sondern unter Gleichgesinnten in einer funktionierenden Umgebung, wo sie sich hervorragend betreut fühlen und jederzeit auf Unterstützung unserer Pflegemitarbeitenden zählen dürfen. Das darf die ganze Branche als eine Stärke herausheben. Des Weiteren sind wir nach der Corona-Krise aufgrund der aktuellen Erfahrungen für künftige Pandemien noch besser gerüstet. Wobei wir natürlich hoffen, dass es keine weiteren derartigen Vorkommnisse mehr geben wird.
Dr. Luca Stäger, CEO der Tertianum Gruppe
Die Versorgungssicherheit ist ein zentrales Thema
Herr Schlup, welches sind die grössten Herausforderungen für Ihre Mitglieder?
Jürg Schlup: Wir erhalten diverse Anfragen zum medizinischen Alltag, insbesondere Fragen rund um Testdurchführungen, Mangel an Schutzmaterial, insbesondere Masken und damit Fragen der Arbeitssicherheit, oder auch Fragen zur Datensicherheit bei telemedizinischen Konsultationen. Weitere Herausforderungen ergeben sich dadurch, dass sich der Alltag in den Praxen wie in den Spitälern aufgrund der Corona-Pandemie stark verändert hat. Es durften vorübergehend nur noch Untersuchungen, Behandlungen und Therapien durchgeführt werden, die als "dringend angezeigt" galten. Die Berufstätigkeit von Ärztinnen und Ärzten wurde dadurch auf Notfälle reduziert und somit erheblich eingeschränkt. Damit wurde vielen Gesundheitsfachpersonen und Kliniken die Arbeitsgrundlage weitgehend entzogen. Diese waren gezwungen, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Kurzarbeitsentschädigungen für ihre Angestellten zu beantragen.
Was läuft in der Krise besonders gut, was läuft noch falsch?
Die interprofessionelle Zusammenarbeit und der Informationsaustausch funktionieren aus unserer Sicht gut. Das Engagement ist riesig, alle Gesundheitsfachpersonen und alle unsere Mitglieder tun ihr Bestes in dieser Krise, um möglichst jedem Patienten die Versorgung zukommen zu lassen, die er benötigt. Wenn wir diese Krise bewältigt haben werden, ist es angebracht, im Nachgang genau zu evaluieren und zu analysieren, was besser hätte laufen können. Die Versorgungssicherheit wird dabei ein wichtiges Thema sein. Insbesondere die Versorgung mit Schutzausrüstung, Masken, Impfstoffen und Medikamenten sowie die Verfügbarkeit von Gesundheitsfachpersonen, also unsere Abhängigkeit vom Ausland wird ein Punkt sein, bei dem sich die FMH aktiv einbringen wird.
Wie könnten Sie von der Politik noch besser unterstützt werden?
Die FMH bringt auch im aktuellen Pandemiekrisenfall die Anliegen der Ärzteschaft bei den zuständigen Eidgenössischen Departementen ein. So haben wir beispielsweise Lösungen vorgeschlagen für die temporäre Aufhebung der Einschränkungen von telemedizinischen Konsultationen während der Covid-19-Pandemie. Das Ziel dabei: Damit können Ärztinnen und Ärzte anstelle von Konsultationen in der Praxis vermehrt telemedizinische Patientenkontakte anbieten. Hier konnten wir einen Teilerfolg erzielen. Limitationen auf Telefonkonsultationen für Psychiater wurden weitgehend aufgehoben und diejenigen für Haus- und Kinderärzte etwas angepasst. Ein wichtiges Anliegen unsererseits ist, dass alle selbständig erwerbenden Gesundheitsfachpersonen eine Erwerbsausfallentschädigung beantragen können. Also nicht nur diejenigen, deren Betrieb formell geschlossen wurde, sondern insbesondere auch Gesundheitsfachpersonen, deren Berufstätigkeit auf Notfälle reduziert und damit die Zahl der Patientenkonsultation massiv eingeschr.nkt wurde wie zum Beispiel bei Ärztinnen und Ärzten.
Wie wird die Coronakrise das Gesundheitswesen verändern?
Die Auswirkungen werden vermutlich vielfältig sein und vieles können wir heute noch gar nicht wirklich abschätzen. Ganz bestimmt werden wir nach dieser Krise genau überprüfen müssen, wie wir auf Pandemien vorbereitet sind und was wir aus der Corona-Krise lernen können. Ein zentrales Thema wird wie gesagt die Versorgungssicherheit sein. Da wird es unter anderem um die Verfügbarkeit von Material, Medikamenten und Fachkräften gehen und um die Verringerung unserer Abhängigkeit vom Ausland. Wichtige Themen sind zudem die Verbesserung der Informationswege, der Meldesysteme, und die stärkere Rolle von eHealth und Telemedizin.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die Geschehnisse auf die Kostendiskussion auswirken werden. Wir sehen gerade sehr deutlich den grossen Wert eines guten Gesundheitswesens. Das Bewusstsein dafür, dass bei zu knappen Ressourcen nicht alle angemessen behandelt werden könnten, ist gross. Möglicherweise wird die Wertschätzung unserer guten Gesundheitsversorgung dadurch beeinflusst und damit wohl auch die Sicht auf die Diskussion der Kosten, einer Rationierung und der Infrastruktur. Aus medizinischer Sicht gilt es darauf hinzuweisen, dass die vielen Termine in den Spitälern und den Praxen, die wegen der auferlegten Einschränkungen abgesagt werden mussten, zu gesundheitlichen Problemen bei den Patienten führen können, und möglicherweise auch zu Wartezeiten. Dessen sind sich viele Menschen derzeit noch nicht bewusst. Es bleibt schliesslich darauf hinzuweisen, dass unsere Gesellschaft aktuell sehr grosse Kosten für die Wirtschaft – und damit letztlich für uns alle – in Kauf nimmt, um Leben zu retten.
(Das Interview wurde am 5. Mai 2020 geführt)
Dr. Jürg Schlup, Präsident der FMH, dem Berufsverband der Ärztinnen und Ärzte der Schweiz