Ab dem 1. Januar 2026 tritt in der Schweiz im Bereich der ambulanten ärztlichen Versorgung ein neues Tarifsystem in Kraft – eine tiefgreifende Neuerung, die insbesondere auch für Spitäler mit ambulanten Ambulanzen und spitalnahen Arztleistungen relevant ist. Bisher wurden ambulante ärztliche Leistungen grösstenteils nach dem Tarif Tarmed abgerechnet, einer Struktur, die seit rund 20 Jahren kaum grundlegend überarbeitet worden ist.
Mit dem neuen System wird nun ein Gesamt-Tarifsystem eingeführt, das zwei Hauptkomponenten vereint: den Einzelleistungstarif Tardoc sowie sogenannte ambulante Pauschalen.
Die Umstellung ist nicht bloss kosmetischer Natur: Ziel ist es, die ambulante Leistungserbringung transparenter und sachgerechter zu gestalten sowie Fehlanreize im alten System zu reduzieren. Die Kostenneutralität ist dabei ein zentrales Element – das neue System darf nicht zu Mehrkosten führen, die allein durch die Tarifreform bedingt sind.
Modernisierte Einzelleistungstarifstruktur
Für Einrichtungen im Gesundheitswesen – insbesondere Spitäler mit ambulanten Angeboten – bedeutet dies, dass sie sich organisatorisch, abrechnungstechnisch und strategisch auf eine neue Tarif- und Leistungslogik einstellen müssen.
Unter dem alten Tarmed waren Leistungen mit einer grossen Zahl von Einzelpositionen bewertet und abgerechnet worden; technisch-apparative und ärztliche Leistungen wurden zwar getrennt ausgewiesen, aber es fehlte einerseits eine regelmässige Gesamtrevision und andererseits eine gezielte Steuerung hin zur ambulanten Nutzung und effizienteren Leistungserbringung. Mit Tardoc wird hingegen eine modernisierte Einzelleistungstarifstruktur eingeführt: Jede Leistung erhält eine Taxpunktbewertung, wobei künftig ärztliche Leistung (AL) und Infrastruktur-/Personalleistung (IPL) getrennt ausgewiesen werden.
Ambulante Pauschalen
Parallel dazu kommen die ambulanten Pauschalen ins Spiel – sie decken definierte Behandlungspfade oder ambulante Eingriffe ab, bei denen eine pauschale Vergütung alle erbrachten Leistungen umfasst und eine Mischabrechnung mit Einzelleistung nicht zulässig ist.
Für Spitäler mit Ambulanzen betrifft dies mehrere Aspekte: Erstens die Abrechnung von Leistungen, die heute noch nach Tarmed erfolgen – diese müssen bis Ende 2025 angepasst werden. Zweitens die Frage, welche Leistungen künftig als Pauschale abgerechnet werden können und welche weiterhin über Tardoc-Einzelleistungen laufen. Drittens bedeutet die Forderung nach Kostenneutralität, dass die Gesamtvergütung bei gleichem Leistungsangebot keine massiven Veränderungen hervorbringen darf – was für Spitäler eine Herausforderung in Bezug auf Prozessoptimierung und Leistungsmix darstellt.
Zudem wird das Monitoring zentral: Der Bund und die Tarifpartner haben definiert, dass in der sogenannten Kostenneutralitätsphase bis mindestens 2028 ein Wachstumskorridor gilt und bei Überschreitung Korrekturmassnahmen vorgesehen sind.
Umstellungs-Schmerzen
Die Auswirkungen für die Praxis- und Spitalorganisation sind beträchtlich. Es wird nötig sein, ITSysteme (Abrechnung, Leistungsstatistik) anzupassen, Kodierlogiken zu überarbeiten, Mitarbeitende in Abrechnung und Controlling auszubilden sowie
strategisch zu überprüfen, ob ambulante Angebote angepasst oder erweitert werden. Gerade Spitäler, die verstärkt ambulante Behandlungspfade entwickeln – z. B. ambulante Chirurgie, Notfallambulanz, Konsiliarambulanzen – müssen prüfen, ob diese künftig in eine Pauschale fallen oder individuell gemessen werden. In vielen Fällen kann das neue System Effizienzen fördern – etwa durch klar definierte Pauschalen – aber gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Leistungen, die heute noch gute Deckung bieten, künftig weniger rentabel werden, wenn die Taxpunktbewertungen oder Pauschalansätze nicht optimal auf die Realität abgestimmt sind. Fachverbände warnen vor Einstiegsschwierigkeiten und möglichen Gewinnern und Verlierern in den einzelnen Fachgebieten.
Grundsätzlich positiv
Als der Bundesrat im Frühjahr 2025 das neue ambulante Tarifsystem genehmigte, war die Reaktion im Gesundheitswesen zunächst breit positiv. Die Ablösung des seit Jahren unveränderten Tarmed galt als überfällig. Entsprechend erklärte H+ in einer Medienmitteilung: «Mit diesem wichtigen Entscheid ist der Weg frei für ein zukunftsfähiges Tarifsystem.» Doch mit den Monaten veränderte sich die Stimmung. Ab Frühling/Sommer 2025 wurden die konkreten Tarifwirkungen sichtbar – über veröffentlichte Tarifstrukturen, Simulationen und kantonale Startpreise.
Böses Erwachen
Und genau an diesem Punkt kippte die Wahrnehmung bei Leistungserbringern deutlich. So warnte H+-Direktorin Anne-Geneviève Bütikofer gegenüber Medinside: «Zu tiefe Tarife bremsen diesen Wandel und drängen die Spitäler immer weiter in die finanzielle Schieflage.» Auch ambulante Fachärzte meldeten früh Bedenken an. Die Arbeitsgruppe «7plus«, ein Zusammenschluss spezialisierter Fachgesellschaften, schrieb in ihrem Newsletter: «Die ambulanten Pauschalen wurden ohne Mitarbeit der betroffenen Fachärzteschaft entwickelt und weisen in mehreren Belangen erhebliche Mängel auf.» Besonders betroffen zeigte sich die pädiatrische Notfallversorgung. In einer Interpellationsantwort fasste der Kanton St. Gallen die Rückmeldungen der Ostschweizer Kinderspitäler so zusammen: «Die Abgeltungen für die Infrastruktur und das nicht-ärztliche Personal in der Notfallversorgung sind viel zu niedrig für einen kostendeckenden Betrieb.» Auch die chirurgischen Fachgesellschaften spitzten ihre Kritik zu. In einer Medienmitteilung warnte Professor Michele Genoni, Präsident der FMCH: «Wenn die Politik das Ruder nicht herumreisst, droht ein Chaos. Der Ball liegt beim Bundesrat.» Gegenüber SRF ergänzte er mit Blick auf die ambulanten Pauschalen: «Pauschalen sind nicht sachgerecht. Der Bundesrat gewichtet ihre schnelle Einführung stärker als medizinische Facts.»
