Die 1. Etappe der Pflegeinitiative ist am 1. Juli 2024 in Kraft getreten. Sie umfasst vor allem die Ausbildungsoffensive (Bundesgesetz über die Förderung der Ausbildung im Bereich der Pflege samt Verordnung), die direkte Abrechnung bestimmter
Pflegeleistungen sowie ein nationales Monitoring Pflegepersonal. Die Umsetzung läuft kantonal und ist für 2024– 2032 angelegt. Wir haben führende Verbände und Unternehmen um eine erste Bewertung der Umsetzung gebeten. Hier ist das Ergebnis:
Anne-Geneviève Bütikofer Direktorin H+
«Die Umsetzung der Pflegeinitiative ist komplex und noch längst nicht abgeschlossen. Es ist deshalb zu früh, um bereits jetzt ein Fazit zur Wirkung zu ziehen. Es lassen sich aber wichtige Punkte aus Sicht der Spitäler und Kliniken festhalten: Die beschlossene Ausbildungsoffensive wird seit diesem Jahr in den Kantonen umgesetzt. Die genaue Ausgestaltung ist entsprechend unterschiedlich. Aus Sicht der Spitäler wäre ein stärker abgesprochenes und koordiniertes Vorgehen unter den Kantonen wünschenswert gewesen, insbesondere was die Finanzierung von Ausbildungsplätzen angeht. Um ein erstes Fazit zu den Resultaten der Ausbildungsoffensive zu ziehen, ist es noch zu früh. Entscheidend wird sein, dass aus positiven Beispielen aus einzelnen Kantonen gelernt wird. Entscheidend wird vor allem sein, dass die Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich weiter vorangetrieben wird, damit die Arbeitsbelastung durch Nachtschichten verringert werden kann. Dafür ist es dringend nötig, finanzielle Anreize für die Ambulantisierung zu schaffen, durch kostendeckende Tarife. Aktuell wird diese Verlagerung durch die zu tiefen ambulanten Tarife künstlich ausgebremst, hier ist ein rasches Umdenken nötig.»
Frank Nehlig, Leitung Kommunikation, Marketing und Public Affairs, Tertianum
«Die kantonalen Förderprogramme sind sehr unterschiedlich ausgestaltet. Für uns als schweizweit tätige Anbieterin bedeutet dies einen erheblichen Mehraufwand, da wir die Massnahmen in jedem Kanton separat evaluieren und umsetzen müssen. Entscheidend ist zudem, dass genügend Fachpersonen sowie qualifizierte Berufsbildende vorhanden sind, ein doppelter Aufwand angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels. Ein weiterer Knackpunkt bleibt die geringe Zahl an Studierenden, die sich für eine Ausbildung in der Langzeitpflege entscheiden, sowie die hohe Fluktuation unter den Auszubildenden. Gleichzeitig haben wir eigene Initiativen lanciert, um die Ausbildung gezielt zu fördern, zum Beispiel:
- attraktive Ausbildungslöhne, unabhängig von Alter oder kantonalen Förderbeiträgen
- systematische Qualifizierung von Berufsbildenden und Bildungsverantwortlichen, um Ausbildungsqualität und -kapazität zu sichern und auszubauen
- Aufbau von HF-Pflege-Ausbildungszentren, insbesondere dort, wo kleinere Betriebe an ihre Grenzen stossen
- enge Zusammenarbeit mit sieben Bildungsinstitutionen in der Deutschschweiz und Unterstützung verschiedener Ausbildungsmodelle (Teilzeit und Vollzeit)
- Jugendkampagnen auf relevanten Kanälen, die gezielt HF-Studierende und Lernende für Karrieremöglichkeiten in der Langzeitpflege begeistern
Eine klare Einschätzung zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Pflegefachpersonen ist zum jetzigen Zeitpunkt schwierig. Erste Schritte wurden zwar eingeleitet, für spürbare Veränderungen im Alltag unserer Pflegefachpersonen braucht es jedoch noch Zeit. Die bisherigen Massnahmen haben ein wichtiges Momentum ausgelöst. Für eine nachhaltige Sicherung der Versorgung reicht dies jedoch noch nicht aus. Hier braucht es weitere konkrete Schritte, Zeit und eine enge Zusammenarbeit aller Akteure im Gesundheitswesen.»
Martina Summermatter, Mediensprecherin Senevita Gruppe
«Die Umsetzung der Pflegeinitiative zeigt positive Ansätze, bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich. Als schweizweit tätige Arbeitgeberin sind wir an die Vorgaben der einzelnen Kantone gebunden. Die Massnahmen gestalten sich deshalb unterschiedlich. Eine unternehmensweite einheitliche Handhabung ist nicht möglich. Dies erhöht den administrativen sowie organisatorischen Aufwand zusätzlich. Die Situation ist komplex: Die Pflegeinitiative soll dem Fachkräftemangel entgegenwirken. Aufgrund fehlender Fachpersonen und qualifizierter Berufsbildenden kann das Potenzial an Ausbildungsplätzen nicht immer ausgeschöpft werden. Je nach Kanton ist dies mit weiteren Kosten verbunden. Zudem stellen wir fest, dass das Interesse an Ausbildungsplätzen vor allem auf Diplomstufe Höhere Fachschule (HF) oder Bachelorstufe Fachhochschule (FH) in der Langzeitpflege eher gering ist.
Ein Ziel der Pflegeinitiative ist es, dass in der Schweiz mehr Pflegepersonal ausgebildet wird, um die Qualität der Pflege sicherzustellen. Zudem sollen die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal verbessert werden. Als Arbeitgeberin im Gesundheitswesen stehen wir hinter diesen Zielen und engagieren uns deshalb auch unabhängig von der Pflegeinitiative aktiv für ein förderliches und unterstützendes Ausbildungsumfeld:
- Ein zentrales Element bei uns ist die Rolle der regionalen Berufsbildungsverantwortlichen (BBV). Sie begleiten Lernende und Berufsbildnerinnen sowie Berufsbildner, stehen in anspruchsvollen Situationen beratend zur Seite und fördern die enge Zusammenarbeit zwischen Betrieben, Schulen und Kursen. Dadurch sichern sie eine qualitativ hochwertige, praxisnahe Ausbildung und leisten einen entscheidenden Beitrag zur nachhaltigen Stärkung der Pflegeberufe.
- Wir bieten ein breites, kostenfreies Weiterbildungsangebot von Einführungs- und Lernendentagen über Onlinekurse und Minischulungen bis zur Senevita-Akademie, die in Zusammenarbeit mit Careum geführt wird. Damit investieren wir gezielt in unsere Fachpersonen und stärken Motivation, Kompetenz und die Zukunft der Pflege.
Besonders hervorheben möchten wir, dass wir auch Menschen, die bereits Familie haben, sich in der Lebensmitte befinden oder sich neu orientieren wollen, die Möglichkeit bieten, eine Ausbildung als Pflegefachperson nachzuholen.
Wir sehen die Pflegeinitiative als wichtigen Impuls, der den Dialog über notwendige Verbesserungen angestossen hat. Die ersten Veränderungen sind spürbar: Die Ausbildung ist sichtbarer geworden, mehr Studierende interessieren sich dank finanzieller Unterstützung für den Pflegeberuf und der Zugang zu Weiterbildungen wie dem SVEB-Zertifikatskurs wurde erleichtert. Zudem orientieren sich immer mehr Kantone an den Fördermassnahmen des Kantons Bern. Um nachhaltige Ergebnisse zu erreichen, bedarf es dennoch weiterhin Geduld.»
Birgit Andre, Leiterin Netzwerk Pflegemanagement Hirslanden-Gruppe
«Die bisherige Umsetzung der Pflegeinitiative hat erste wichtige Impulse gesetzt und das Thema Pflege stärker ins gesellschaftliche und politische Bewusstsein gerückt. Positiv hervorzuheben sind die finanziellen Beiträge für Ausbildung. Doch Ausbildung allein genügt nicht: Die langfristige Bindung von Fachkräften an den Beruf bleibt eine zentrale Herausforderung. Nur mit gezielten Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Karriereperspektiven lässt sich die Versorgungssicherheit im Zuge des demografischen Wandels nachhaltig sichern. Hirslanden hat bereits erste Projekte zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen umgesetzt. Dazu zählen unter anderem klare Regelungen beim «Einspringen», die konsequente Kompensation von Überstunden sowie vier zusätzliche Umkleidetage pro Jahr. Zudem setzen mehrere Kliniken der Gruppe auf eine mitarbeiterorientierte Dienstplanung mit flexiblen Teilzeit-Pensen und eine innovative Do-it-yourself-Dienstplanung, die den Mitarbeitenden maximale Flexibilität bietet.»
Heisse Diskussionen über die 2. Stufe
Heime & Spitäler hatte auch Artiset/Curaviva, die Spitex, Senesuisse und die Initiatoren der Pflegeinitiative, den Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer (SBK/ASI), um ihre Zwischenbilanz gebeten, aber alle vier Verbände wollten sich aufgrund der intensiven Gespräche mit der Politik zur 2. Stufe, bei der es um die Arbeitsbedingungen gehen wird, aktuell nicht äussern. Wie intensiv hinter den Kulissen diskutiert wird, zeigen die Aussagen von Anne- Geneviève Bütikofer von H+.
Keine Vorgaben ohne Finanzierung
Bütikofer sagt: «Die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals werden in der zweiten Etappe der Umsetzung angegangen. Die entsprechende Vorlage dazu ist aktuell im Parlament. H+ anerkennt den beabsichtigten Zweck der Vorlage, im Bereich der Pflege die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Verweildauer im Beruf zu erhöhen. Der vorliegende Gesetzesentwurf schiesst jedoch über das Ziel hinaus und droht, den Fachkräftemangel zu verschärfen und die finanzielle Lage der Spitäler und Kliniken weiter zu verschlechtern. H+ ist grundsätzlich der Meinung, dass notwendige Massnahmen auch im bestehenden arbeitsrechtlichen Rahmen umgesetzt werden können. Die Bestimmungen, die der Bundesrat vorschlägt, führen zu mehr Bürokratie in einem ohnehin schon überregulierten Gesundheitssystem. Zu befürchten sind neue Personalengpässe, wodurch der Druck auf die Pflegepersonen zusätzlich erhöht würde. Die vorgesehenen Massnahmen schränken die von den Pflegenden gewünschte Flexibilität der Arbeits- und Lebensplanung ein. Schliesslich untergraben die zahlreichen Eingriffsmöglichkeiten des Bundes die bisher gut funktionierende Sozialpartnerschaft. Für die Spitäler und Kliniken bringen die vorgesehenen Massnahmen zudem massive Mehrkosten, deren Finanzierung nirgends geregelt ist. Das ist gerade in der aktuell ohnehin sehr angespannten finanziellen Lage der Spitäler schlicht nicht umsetzbar. Eine Umsetzung dieser Vorgaben ohne Regelung der Finanzierung würde die Versorgung der Bevölkerung gefährden, ohne positive Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals zu haben. Die Spitäler und Kliniken haben selbst das grösste Interesse daran, ihr Personal durch innovative und attraktive Arbeitsbedingungen an sich zu binden. Um das individuell und an die jeweiligen Umstände angepasst umsetzen zu können, benötigen sie nicht noch mehr Vorgaben, sondern unternehmerischen und finanziellen Spielraum. Konkret sind endlich kostendeckende Tarife nötig, damit die Spitäler wirtschaftlich nachhaltig arbeiten und planen können. Davon profitieren auch die Bevölkerung und das Pflegepersonal.»
Fazit: Durchwachsener Start
Rund ein Jahr nach Start der ersten Etappe zeigt sich: Die Ausbildungsoffensive nimmt Fahrt auf, doch kantonal unterschiedliche Umsetzungen und fehlende Berufsbildende bremsen das Tempo. Positiv sind mehr Sichtbarkeit und finanzielle Unterstützung, gleichzeitig bleiben Rekrutierung und Bindung – besonders in der Langzeitpflege – der Engpass. Für den Durchbruch braucht es kostendeckende ambulante Tarife, bessere Arbeitsbedingungen und einen koordinierten, atenbasierten Vollzug über die Kantone hinweg. Die zweite Etappe muss Verbesserungen realisieren, ohne zusätzliche Bürokratie und mit gesicherter Finanzierung – sonst drohen neue Engpässe. Fazit: Nur gemeinsames Handeln von Bund, Kantonen, Leistungserbringern und Sozialpartnern lässt die Pflegeinitiative ihre Wirkung voll entfalten.
