Kunsttherapeutin Martina Dresler

Nach einer Weile öffnen sie sich

Publiziert

Seit 2017 bietet die Kunsttherapeutin Martina Dresler eine Kunsttherapie für Patientinnen und Patienten des Felix Platter Spitals an. Sie erzielt erstaunliche Resultate.

Seit wann gibt es die Kunsttherapie im Felix Patter Spital, Frau Dresler?
Ich organisiere die Kunsttherapie seit 2017. Sie wurde auf Initiative von Prof. Dr. med. Reto W. Kressig initiiert, dem Ärztlichen Direktor vom Felix Platter. Die Schwerstfälle mit weit fortgeschrittener Demenz, mit einem MMSE unter 13, sind häufig auf verlorenem Posten, weil sie kognitiv so eingeschränkt sind, dass sie an normalen Therapien nicht teilnehmen können. Wir haben dann ein Pilotprojekt gestartet, um mit diesen Patientinnen und Patienten zu malen.

Welche Ergebnisse haben Sie erzielt?
Wir haben erstaunliche Entwicklungen festgestellt. Beispielsweise, dass viele Patientinnen und Patienten viel ruhiger wurden und plötzlich sogar begannen, wieder zu sprechen. Viele zeigten sich im Zeitverlauf immer motivierter und wurden in ihrem Selbstvertrauen offensichtlich gestärkt. Wie ist das zu erklären? Das Besondere der Kunsttherapie ist, dass sie Demenz-Patienten auf der emotionalen Ebene erreicht. Sie können sich bei ihren non-verbalen und präkognitiven Möglichkeiten bedienen und so Ressourcen entdecken, mit denen sie sich wieder wertvoll und nützlich fühlen. Sich mit einem künstlerischen Medium ausdrücken zu können, wirkt sich positiv auf die Lebensqualität aus. Das Nachlassen geistiger Fähigkeiten rückt zeitweise in den Hintergrund, es wird beim Malen irrelevant.

Ist das eher eine kurzfristige Verhaltensänderung?
Die Ergebnisse sind nicht andauernd, wir können mit der Kunsttherapie natürlich nicht die Demenz heilen. Gerade bei den schweren Fällen geht es darum, ihnen für einen Moment eine Erleichterung zu ermöglichen und sie für einen Nachmittag zur Ruhe kommen zu lassen. Einfach eine schöne Zeit zu haben.

Und weil dieses Projekt so erfolgreich war, wurde es dann weitergeführt?
Ja, genau. Ich mache die Therapie jetzt zweimal im Monat, immer am Wochenende. Da passiert in der Regel weniger als während der Woche und es kann Langeweile aufkommen. Ich gestalte dann den Nachmittag und bezeichne das übrigens auch gar nicht als Therapie.

Warum nicht?
Wenn das Wort Therapie fällt, meinen die Patientinnen oder Patienten, sie müssten jetzt unbedingt etwas leisten. Das führt bei vielen häufig zu Abwehrmassnahmen und zur Verweigerung. Darum nennen wir das dann nur: Überraschungsnachmittag mit Kaffee.

Würde es nicht Sinn machen, den «Überraschungsnachmittag» häufiger als zweimal im Monat durchzuführen?
Das wäre wünschenswert und wirkungsvoller. Allerdings sind die Patientinnen und Patienten immer nur kurze Zeit hospitalisiert. Das heisst, zu 70 Prozent male ich sowieso nur einmal mit den Patienten. Nur wenn sie einen längeren Aufenthalt haben, kann ich regelmässiger mit ihnen arbeiten. Erzählen Sie doch mal, wie ein typischer Nachmittag verläuft. Wir treffen uns um einen grossen Tisch, auf dem auch die Malsachen stehen und trinken einen Kaffee. Dabei spreche ich viel mit den Kursteilnehmenden, frage sie nach früheren Erlebnissen. Wir erzählen uns eigentlich ganz normal gegenseitig private Dinge.

Gleichzeitig haben wir nicht nur die Malsachen auf dem Tisch, sondern auch andere Angebote. Beispielsweise Schulknete oder Legespiele mit verschiedenen grafischen Formen und Farben. Ich habe alte Fotos aus dem Brockenhaus mit Hochzeiten oder Kindern, die man anschauen kann, so ergibt sich häufig ein Gespräch. Und so eine russische Babuschka, die man auseinandernehmen und wieder zusammenbauen kann. Ganz wichtig dabei: Der Tisch muss immer bunt sein, das scheint alles attraktiver zu machen.

Stehen denn wirklich alle Patientinnen und Patienten diesen Aktivitäten positiv gegenüber?
Insbesondere Frauen, die früher schon gemalt haben, freuen sich auf Pinsel und Papier und manche malen hochkonzentriert über zwei Stunden. Aber gerade bei Männern kommt es vor, dass sie wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben gemalt haben, eventuell auch nicht in der Kindheit. Dann sitzen die hier zunächst und sagen, dass sie das nicht wollen. Wichtig ist es, sie nicht zu drängen, ihnen Zeit zu lassen. Manchmal hilft die Knete, sie können dann etwas mit den Händen machen, das beruhigt sie. Aber es gibt auch Patientinnen und Patienten, die nur dasitzen und gar nichts tun wollen. Da kommt aber dann häufig der Effekt der Spiegelneuronen zu tragen.

Das müssen Sie erläutern.
Wenn Sie jemanden beobachten, der etwas macht, machen Sie das im Kopf durch die Beobachtung mit. In ihrem Kopf spiegeln sich die Aktivitäten. Ich habe festgestellt, dass es häufig bis zu einer Stunde dauert, bis diese Menschen ihre Ablehnung aufgeben und dann doch mitmachen. Das heisst, sie beobachten das Geschehen eine Weile ganz genau und greifen sich dann etwas. Manchmal sortieren sie dann die Formen, das ist sehr beliebt. Mit dem Reden ist es ähnlich. Es braucht Zeit, bis Einzelne zu reden beginnen. Manche Patientinnen oder Patienten bleiben die ganze Zeit untätig, doch durch die Beobachtung und das Zuhören der anderen kommen auch sie zur Ruhe.

Also entsteht so eine Art Gruppendynamik?
Genau. Neulich hatten wir einen besonderen Fall. Es stellte sich heraus, dass ein Patient früher Musiker war. Wir haben ja hier im Raum ein Klavier. Ich musste ihn ein wenig überreden, aber schliesslich hat er sich ans Klavier gesetzt und für uns alle gespielt. So entstand eine wunderschöne Stimmung.

Haben Sie bei der Therapie etwas verändert in den letzten fünf Jahren?
Ich habe die Papiergrösse verändert, ich habe sie verkleinert. Denn ich hatte den Eindruck, dass ein grosses Papier die Menschen eher erschreckt und sie befürchten, dass sie das gar nicht bewältigen können. Aber mit einem Karton in Grösse von A5 geht es wunderbar. Und mit der Zeit habe ich die schon erwähnte Knete und die Legespiele hinzugenommen. Viseur heisst ein Spiel, das ursprünglich für Kinder entwickelt wurde. Das sind Plastikplatten in verschiedenen Farben, die Grundformen wie beispielsweise Kreis, Quadrat, Rechteck, Dreieck beinhalten. Interessanterweise formen die weniger stark beeinträchtigten kognitiven Fälle diese Platten zu Mustern, die wieder Grundformen sind. Und die schweren Fälle sortieren eher. Also alle Dreiecke auf einen Haufen oder alle roten Formen.

Was malen die Teilnehmenden eigentlich?
Ich hatte neulich einen Mann, der im Rollstuhl ganz in sich hineinversunken sass, er hat nicht geredet, man konnte noch nicht einmal Blickkontakt mit ihm aufnehmen. Dem habe ich einen Pinsel und ein Papier gegeben und plötzlich hat er den Pinsel selbständig eingetaucht und begann, Flecken zu malen. Die Patientinnen und Patienten malen keine illustrativen Bilder. Sie malen eher Urformen der Kindermalerei, wie Kreise, Flecken, Spiralen, Tüpfchen. Nur diejenigen, die weniger stark beeinträchtig sind, malen auch schon mal einen Baum oder einen Vogel. In einem anderen Fall hat eine Frau, mit der man nicht mehr verbal kommunizieren konnte, zum Takt der Musik, die ich in der Regel nebenbei laufen lasse, Punkte aufs Papier gemalt. Ich stelle fest, dass man auch mit den schweren Fällen übers Herz und mit Offenheit, die man ihnen entgegenbringt, kommunizieren kann. Sie scheinen die Energie und das Wohlwollen zu spüren und mit der Zeit öffnen sie sich dann – jeder auf seine Art. Viele bedanken sich auch für den schönen Nachmittag. Es ist erstaunlich und berührend, was ich dort immer wieder erlebe.

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Bezugsquellenverzeichnis