«Das Schweizer Gesundheitswesen ist auf Ausgabenwachstum getrimmt», kritisiert ZHAW-Professor Tilman Slembeck zu Recht. Aber «eine stärkere demokratische Kontrolle» wie er sie fordert und als wir sie in unserer direkten Demokratie haben, ist gar nicht möglich. Seine Forderung, die Versicherten- und Patientenorganisationen zu subventionieren, ist absurd. Schliesslich haben wir alle an der Urne das letzte Wort. Das Stimmvolk hat seit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) alles abgelehnt, was den regulierten Wettbewerb in Richtung mehr Staat oder mehr Markt verändern wollte. Wir brauchen auch kein Gesundheitsgesetz, das nach planwirtschaftlicher Manier "Ziele und Grenzen" definiert. Wichtiger ist zuerst einmal ein konsequenter Vollzug des Krankenversicherungsgestzes (KVG).
Das KVG verlangt von den Krankenkassen, nur wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche (WZW) Medizin zu vergüten. Es verlangt ebenfalls seit der Inkraftsetzung 1996 transparente Qualität, damit die Patienten gute Ärzte, Spitäler und andere medizinische Leistungserbringer nicht im Blindflug suchen müssen. Statt von Bundesrat und Verwaltung zu verlangen, WZW und Qualitätstransparenz durchzusetzen, will das Parlament aber das KVG mit einer Flut von Vorstössen
verunstalten.
Der Kostenröhrenblick
Die Behauptung, das System stosse «an die Grenzen der Finanzierbarkeit» ist schlicht falsch. Es wird ignoriert, dass das Bruttoinlandprodukt (BIP) 2018 mit über 650 Milliarden Franken mehr als achtmal höher als die gesamten Gesundheitsausgaben von rund 80 Milliarden Franken und dreizehn Mal höher als die Ausgaben gemäss KVG (Prämien- und Steueranteil) von rund 50 Milliarden Franken war. Das Wirtschaftswachstum beträgt seit 1996 pro Jahr 2,3 Prozent beziehungsweise 15,4 Milliarden Franken. Die Gesundheitsausgaben wachsen um 3,7 Prozent beziehungsweise 3,0 Milliarden Franken pro Jahr. Das BIP ist zwar seit 1996 prozentual weniger gewachsen als die Gesundheitsausgaben, in absoluten Zahlen hingegen fünf Mal stärker. Wenn BIP und Gesundheitsausgaben weiterwachsen wie bisher, wird das absolute Wachstum von BIP und Gesundheitsausgaben erst im Jahr 2135 gleich hoch sein. Erst dann müssen wir die Wohlfahrt in den anderen Bereichen reduzieren, sollen BIP und Gesundheitsausgaben gleich weiterwachsen.
Die Finanzierung ist also vorläufig nicht das Problem. Und wer finanziell in bescheidenen Verhältnissen lebt, hat laut KVG das Recht auf individuelle Prämienverbilligungen. Der Kanton Luzern ist vom Bundesgericht zurückgepfiffen worden, weil er die Prämienverbilligungen zu stark und erst noch rückwirkend gekürzt hat. Andere Kantone haben die Grenze des steuerbaren Einkommens, welche für Prämienverbilligungen berechtigen nach diesem wegweisenden Bundesgerichtsentscheid angehoben. Die aktuelle SP-Initiative verlangt, dass Haushalte nicht mehr als 10 Prozent ihres steuerbaren Einkommens für Krankenkassenprämien ausgeben dürfen. Sie ist aber überflüssig, wenn die Kantone das Instrument der Prämienverbilligungen korrekt einsetzen.
Alternative Versicherungsmodelle und einheitliche Finanzierung
Oft wird kritisiert, dass wir Anreize für Produktinnovationen, wie neue Medikamente und Therapien, aber nicht für Prozessinnovationen haben. Das stimmt nur zum Teil. Ein Ärztenetz, das beispielsweise Diabetiker ambulant mit etwas höheren Kosten besser versorgt und damit Spitalaufenthalte verhindert, hilft nur dem Kanton Kosten zu sparen, aber nicht der Kasse. Grund: Der Kanton finanziert nur die stationären Leistungen mit 55 Prozent mit, nicht aber die ambulanten. Die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Medizin (EFAS) setzt die Anreize für die integrierte Versorgung richtig. Die Forderung der Kantone, mit EFAS auch den ambulanten Bereich wie schon die Spitäler zu planen, ist nicht im Interesse der Bürger. Nach dem Motto «Wer zahlt, befiehlt» entscheiden wir Bürger, entweder via Steuern, via Prämien oder direkt aus dem eigenen Portemonnaie. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat dafür zu sorgen, dass die Kassen
als Treuhänder der Versicherten handeln. Daran ändert auch EFAS nichts.
Die alternativen Versicherungsmodelle (AVM) geben Kassen und Ärzten den Freiraum, Effizienz und Qualität, statt Mengen zu belohnen. Wir brauchen also kein maximales Kostenwachstum, das sich am BIP oder Lohnwachstum orientiert. Die Expertenkommission Diener, die wie die CVP mit dieser Idee liebäugelt,
ignoriert, dass sich schon jetzt jede versicherte Person mit einem AVM für eine «Kostenbremse» entscheiden kann. Der Vergleich der Kostenbremse mit der Schuldenbremse hinkt aus mehreren Gründen: Erstens sind die Krankenversicherer im Vergleich zur Einheitskasse IV nicht verschuldet. Zweitens funktionieren Kosten- und Schuldenbremsen nur mit Inputsteuerung. Das KVG setzt mit WZW aber auf output- und outcomeorientierte Anreize. Diese Anreize richtig zu setzen, ist zwar wesentlich anspruchsvoller als Kosten zu begrenzen. Das fördert aber den Wettbewerb um Effizienz sowie Qualität und verhindert offene oder versteckte Rationierungen. Und schliesslich ist es nicht redlich, den Versicherten im Krankheitsfall alles zu versprechen, was medizinisch möglich ist, gleichzeitig aber die Kosten zu begrenzen. Damit AVM und die integrierte Versorgung noch erfolgreicher werden, brauchen Kassen mehr Spielraum bei der Prämienkalkulation. Mit
diesen sechs Anforderungen bekommen Krankenversicherer und Leistungserbringer den nötigen Spielraum, um die integrierte medizinische Versorgung
weiter zu verbessern:
1. Jede Prämie muss mittelfristig kostendeckend sein (Systemsicherheit)
2. Rabatt auf 300er-Franchise 0 Prozent (wie bisher)
3. Rabatte auf Wahlfranchise frei festsetzbar, maximal 25 Prozent (Attraktivierung AVM und Solidarität)
4. Die Standardgrundversicherung als Referenz für alle Prämien wird abgeschafft (Attraktivierung AVM)
5. Das jeweilige Kollektiv (Leistungskosten und Risikoausgleich) ist relevant für die Prämie (Solidarität je Kollektiv und Attraktivierung AVM)
6. AVM mit dreifacher Freiwilligkeit – Versicherer, Kunde, Leistungserbringer (Gleiche Freiheiten für alle)
WZW und transparente Qualität
Man kann mit noch so viel Vorschriften, Verboten und Kontrollen Probleme nicht lösen, die man mit falschen Anreizen erst geschaffen hat. Und die Anreize richtig setzen, heisst: erstens WZW operationalisieren, damit die Kassen in jedem Einzelfall nur noch wirksame, zweckmässige und wirtschaftliche Medizin zulasten der Grundversicherung bezahlen müssen. Zweitens soll den Kassen erlaubt sein, mit medizinischen Leistungserbringern, die keine Qualitätstransparenz schaffen, keine Verträge abschliessen zu müssen. Und drittens sollten sie für erreichte Behandlungsziele statt für Mengen bezahlen müssen. Mit den neuen Regulierungen
für die Zulassung von Ärzten und für die Qualität macht das Parlament ein Durcheinander bei den Zuständigkeiten des Bundes, der Kantone und der Verbände. Dabei wäre es ganz einfach: Die Kantone sorgen mit der Zulassung beziehungsweise mit dem Entzug der Zulassung, dass keine medizinischen leistungserbringer auf dem Markt sind, die Patienten gefährden (Patientensicherheit). Der Bund/das BAG erlaubt den Krankenversicherern, mit medizinischen Leistungserbringern, welche die Qualität ihrer Leistungen nicht hinreichend transparent und für Laien verständlich ausweisen, nicht mehr abzurechnen.
In dieser Rubrik äussern Vertreter aus dem Gesundheitswesen ihre Meinung zu aktuellen Themen.