Den zündenden Einfall hatte der junge Botaniker Arthur Clapham an der englischen Universität Oxford, als ihn für einmal ein Professor um Rat fragte. Sir Arthur Tansley war Anfang 1930 der Ansicht, dass es nicht reicht, einfach nur Organismen zu beobachten. Man müsse das Zusammenspiel der Organismen mit anderen Organismen und ihrem Umfeld aus leblosen Dingen analysieren. Nur fiel ihm kein Wort ein, dass das alles zusammenfasste. Also fragte er Clapham. Dieser antwortete mit «Ökosystem» – abgeleitet aus dem Griechischen «oikos» für Haus. Damit war ein Begriff geboren, der mittlerweile auch in vielen Bereichen ausserhalb der Biologie angewendet wird. So auch im Gesundheitswesen, wenn man von Gesundheitsdatenökosystemen spricht.
Die Idee dahinter ist folgende: Über sein Leben verteilt sammelt ein Patient Daten in der Höhe von 400 Gigabyte über seine Gesundheit. Es geht aber um viel mehr als diese Gesundheitsdaten, die wir alle in Fülle haben. Die Daten alleine bringen nämlich noch nichts. Erst, wenn die einzelnen Akteure Daten erfassen, digital speichern und sie mit anderen teilen, sodass diese damit etwas anfangen können – erst dann entstehen Gesundheitsdatenökosysteme. Und solche Gesundheitsdatenökosysteme sind enorm wertvoll, was sich anhand von drei Bereichen aufzeigen lässt.
Für die Patientinnen und Patienten: Auf individuelle Bedürfnisse ausgerichtete Medizin
Gesundheitsdatenökosysteme ermöglichen es, dass Patientinnen und Patienten effektive, personalisierte Medizin erhalten. Also Angebote, die auf ihre tatsächlichen und individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Diese Behandlungen bedingen, dass die Patienten ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung stellen – damit Ärzte oder Spitäler darauf abgestützt die richtige Entscheidung treffen können. Was das konkret bedeutet, zeigt sich beispielhaft in einem Projekt, das Roche gemeinsam mit dem Universitätsspital Zürich und Foundation Medicine aus dem amerikanischen Cambridge verwirklicht hat. Patientinnen und Patienten teilen in diesem Projekt Daten über ihre Tumorerkrankungen, sodass Forschende diese analysieren und auswerten können. Wenn nun jemand an Krebs erkrankt, können Ärzte ein Profil des Tumors erstellen, dieses mit dem System abgleichen, und erhalten dann basierend darauf Behandlungsvorschläge. Was dieser Tumortest konkret für Patienten bedeutet, zeigt ein Fall aus Israel. Bei Michael Negrin, einem 67-jährigen Familienvater, wurde Blasenkrebs diagnostiziert, verbunden mit der Prognose, dass er noch ein Jahr zu leben habe. Die Chemotherapie schlug nicht an. Daraufhin haben die Ärzte bei ihm einen Tumortest veranlasst, welcher ergab, dass die spezifische Form von Negrins Blasenkrebs auf Medikamente reagieren könnte, die man eigentlich Brustkrebspatienten verabreicht. Die Therapie wirkte und Negrin war knapp drei Jahre nach der Diagnose immer noch beinahe krebsfrei. Dieses Beispiel beinhaltet bereits den zweiten Bereich, in welchem Gesundheitsdatenökosysteme enormen Nutzen versprechen:
Für die Forschenden: Massiver Erkenntnisgewinn
Je besser Forschende Daten verknüpfen und zu grösseren Sets zusammenführen können, desto schneller und aussagekräftiger lassen sich Muster erkennen und neue Hypothesen ableiten. Diese können dann getestet und aus ihnen neue Erkenntnisse gewonnen werden. Darauf aufbauen lassen sich innovative und bessere Therapien und neue Gesundheitsangebote. Um das zu fördern, hat der britische Staat mit der UK-Biobank eine Plattform geschaffen, mit der er Forschenden den Zugang zu Gesundheitsdaten von einer halben Million britischen Patienten ermöglicht.
An dieser Stelle mögen viele einwenden: Werde ich dadurch nicht zum gläsernen Patienten? Was ist mit dem Schutz meiner Daten? Dem lässt sich entgegnen: Für Forschende, sei es an den Universitäten oder in der Pharmaindustrie, ist der Zugriff auf aggregierbare Daten entscheidend – das heisst, es geht um anonymisierte Angaben, die sich zu möglichst grossen Sets zusammenfügen lassen. Die Forschenden haben absolut kein Interesse daran, Rückschlüsse auf einzelne Patienten zu ziehen.
Für die ganze Gesellschaft: Transparentere und nachhaltigere Gesundheitssysteme
Gesundheitsdatenökosysteme ermöglichen es auch, das Gesundheitssystem insgesamt transparenter, wirksamer und nachhaltiger zu gestalten. Dies bedeutet gleichzeitig einen grossen Mehrwert für die ganze Gesellschaft. Das betrifft zum Beispiel Mehrfachbehandlungen, die wegfallen und so Kosten einsparen. Eine Vielzahl von Tests müssten nicht mehrfach durchgeführt werden, wenn ein Patient von einem Arzt zum anderen wechselt. Aber vor allem: Datenbasierte Gesundheitssysteme erlauben es, die tatsächlichen Ergebnisse der Behandlung ins Zentrum zu rücken und diese zu entschädigen. Diese treten an die Stelle der heutigen Dienstleistungsorientierung ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Qualität der Behandlungsresultate. In einem solchen System darf auch erwartet werden, dass sich der Fokus stärker auf die Prävention richtet, also auf die Förderung und den Erhalt der Gesundheit der Menschen.
Die COVID-Pandemie hat zudem weitere Vorteile von Gesundheitsdatenökosystemen für die öffentliche Gesundheit in den Vordergrund gerückt: Israel war nicht zuletzt deshalb schnell bei der Impfung, weil es für die Weiterentwicklung des Impfstoffes wichtige Realworld-Daten liefern konnte. Gerade für die anstehenden Entscheide über die Notwendigkeit einer Booster-Impfung bleibt dies wichtig. Dänemark andererseits konnte dank digitalen Infrastrukturen seinen Bürgerinnen und Bürgern sehr früh einen Corona-Pass anbieten und Massnahmen zeitnah und gezielt lockern.
Schweiz abgeschlagen, aber nicht abgehängt
In der Schweiz war all das nicht möglich, weil wir kein digitalisiertes und vernetztes Gesundheitsdatenökosystem haben. Stattdessen wurden in der Krise wichtige Angaben per Fax übermittelt oder waren gar nicht verfügbar. Ohne zeitnahe realistische Lagebeurteilung war das Management der Krise noch anspruchsvoller als ohnehin schon. Dies ist keine Überraschung: Bereits im Digital Health Index der Bertelsmann-Stiftung von 2018 liegt die Schweiz abgeschlagen auf Rang 14 von 17 betrachteten Ländern. Am schlechtesten schneidet die Schweiz bei der tatsächlichen Nutzung von Daten ab. Mit anderen Worten: Gesundheitsdaten sind zwar in insolierten Silos vorhanden, aber sie sind nicht digitalisiert, strukturiert und können folglich auch nicht geteilt werden. Es ist aber noch nicht zu spät. Die Schweiz hat nämlich viele Vorteile, die sie für ein funktionierendes, qualitativ hochstehendes Gesundheitsdatenökosystem nutzen könnte. Stichworte sind: politische Stabilität, vertrauensstiftende demokratische Strukturen, Weltklasse Hochschulen und Spitzen-Wissenschaftler sowie die hochinnovative LifeScience-Industrie.
Sechs Handlungsfelder weisen den Weg zum Gesundheitsdatenökosystem
Wie kann die Schweiz den Rückstand aufholen? Ein Blick auf erfolgreichere Nationen gibt Hinweise. Zuallererst braucht es politischen Willen und Führung, um eine gemeinsame Vision zu erarbeiten. Alle Anspruchsgruppen müssen von Beginn an in den Aufbau eines Gesundheitsdatenökosystems einbezogen werden. Dann braucht es eine kohärente Strategie. Wie diese aussehen könnte, hat Interpharma entlang von sechs Handlungsfeldern in einer Roadmap dargelegt:
- Erstens brauchen wir technologische Infrastrukturen, mit denen Daten erhoben, gespeichert und geteilt werden können. Diese Infrastrukturen können zentral oder dezentral sein, sie können von der öffentlichen Hand oder von Privaten gebaut werden. Wichtig ist – in Analogie zum Strassenverkehrsnetz – dass sie orchestriert werden, damit die einzelnen Strassen und Spuren miteinander verbunden sind. Für diese Rolle – das hat die Abstimmung über die E-ID gezeigt – kommt in erster Linie der Staat infrage.
- Zweitens braucht es gemeinsame ethische Standards und Regeln zu Sicherheit, aber auch technische und qualitative Bestimmungen über Daten und Schnittstellen. Einerseits schafft dies das nötige Vertrauen, andererseits gewährleistet es Interoperabilität. Ein Ansatzpunkt dazu existiert bereits mit dem Swiss Personalized Health Network (SPHN), das eine solche gemeinsame Sprache entwickelt.
- Drittens reichen aber orchestrierte, technologische Infrastrukturen und eine gemeinsame Sprache alleine nicht. Es braucht auch digitale Kompetenz – und zwar auf allen Stufen: vom Anwender bis zum Spezialisten. Das bedeutet, dass die grundlegenden Fähigkeiten, mit Daten umzugehen, in sämtlichen Lehrplänen verankert werden müssen. Sie müssen Teil der Aus- und Weiterbildung im Gesundheitswesen sein.
- Der vierte Punkt bezieht sich auf die notwendigen rechtlichen Grundlagen: Es muss klar sein, wer was teilen darf und kann. Zurzeit regelt in der Schweiz ein rechtlicher Flickenteppich die Datennutzung – etwa im Humanforschungsgesetz oder dem Gesetz über das elektronische Patientendossier. Leider gibt es auch Lücken. Das führt zu Rechtsunsicherheit und unterminiert das Vertrauen. Neben dem wichtigen robusten Datenschutzgesetz, das es in der Schweiz gibt, ist zu erwägen, ob eine transparente Regelung mittels eines Datennutzungsgesetzes nicht hilfreich wäre. Der rechtliche Rahmen muss aber auch Anreize setzen, damit Gesundheitsdaten aufbereitet, strukturiert und so nutzbar gemacht werden. Diese Kuratierung ist aufwendig und wird im Gesundheitswesen oft nicht honoriert.
- Das fünfte Handlungsfeld betrifft die nachhaltige Finanzierung. Die Grundinfrastruktur des Systems hat den Charakter eines öffentlichen Gutes. Folglich hat die öffentliche Hand eine wichtige Rolle zu spielen. Das heisst aber nicht zwangsläufig, dass sie diese alleine bauen oder finanzieren muss. Wie mit der Autobahn-Vignette könnte der Staat auch für den Zugriff auf Daten Gebühren erheben und so eine nachhaltige Finanzierung sicherstellen.
- Damit bleibt der letzte und wichtigste Erfolgsfaktor: Ein Gesundheitsdatenökosystem bedingt gesellschaftliche Akzeptanz und Beteiligung. Wir müssen in der Schweiz eine gemeinsame Vision etablieren, eine breit abgestützte Vorstellung vom kollektiven Wert und Nutzen eines Gesundheitsdatenökosystems. Erst wenn die Organisationen des Gesundheitssystems sowie jeder Einzelne den kollektiven Mehrwert des Datenteilens erkennt, kann sich ein Ökosystem entwickeln. Interpharma versucht, hier mit sogenannten Leuchtturmprojekten einen Beitrag zu leisten. In gemeinsamen Workshops von Industrie und Akademie erarbeiten Experten (Pilot-)Projekte, die den konkreten, individuellen und kollektiven Nutzen von Gesundheitsdatenökosystemen greif- und erlebbar machen.
Fazit: Wir müssen den Aufbau jetzt gemeinsam anpacken.
Der gewaltige Mehrwert von Gesundheitsdatenökosystemen ist unbestritten. Deshalb haben sie in verschiedenen Staaten seit Jahren politische Priorität. Die EU etwa treibt deshalb mit Nachdruck den Aufbau eines EU Health Data Space voran. Die Schweiz muss sich beeilen, wenn sie international den Anschluss an diesen wichtigen Erfolgsfaktor eines modernen Gesundheitssystems und nachhaltigen Innovationsstandortes nicht verpassen will. Noch ist es nicht zu spät. Die Schweiz hat die nötigen Voraussetzungen, um mit ihren traditionellen Stärken ein qualitativ hochwertiges und damit kompetitives Gesundheitsdatenökosystem aufzubauen. Wenn alle staatlichen und privaten Akteure des schweizerischen Gesundheitswesens gemeinsam mit einer kohärenten Strategie den Aufbau eines solchen Ökosystems in Angriff nehmen, können wir unseren Gesundheits- und Innovationsstandort auf ein zukunftsfähiges Fundament stellen. Die Investitionen, die wir heute tätigen, werden sich künftig um ein Mehrfaches auszahlen. Packen wir es an!